«Wer weiss, warum wir zum Mittagessen Reis und mindestens vier andere Nahrungsmittel essen sollten?» Nusrat Hossain blickt in die Runde. Die dynamische junge Frau präsentiert einen Teller voller Symbole für Gemüse, Hülsenfrüchte, Milchprodukte, Fleisch und Früchte. Die Aufmerksamkeit der Frauen auf der orangen Blache oszilliert an diesem kühlen Wintermorgen zwischen dieser jungen Helvetas-Freiwilligen und den lachenden, hüpfenden Kindern.
Wir befinden uns in Shilbunia Para, einem kleinen Dorf in den Hügeln des Bandarban-Distrikts im Südosten Bangladeschs, in den Chittagong Hill Tracts. May Hla Koi Marma lächelt beim Anblick ihrer quirligen Tochter Nua Wong, die gerade ein Jahr alt geworden ist. Sie ist ein gesundes Mädchen. Ihre noch kurze Lebensgeschichte ist eine ganz andere als die ihres Bruders Uche Wong, der heute sieben ist. Seine frühe Kindheit war viel schwieriger – für Mutter und Sohn.
Hier in der Region sind 40 Prozent der Kinder in ihrer Entwicklung beeinträchtigt, weil sie mangelernährt sind und weil sie immer wieder krank werden. Zusammen mit jungen Frauen wie Nusrat entwickelt Helvetas Auswege aus dieser Situation, die vielen Kindern die Chance auf eine normale Kindheit und ein gesundes Leben raubt. Es geht dabei nicht nur um den Mangel an nahrhaften Lebensmitteln, sondern auch um althergebrachte Gepflogenheiten und ein schwaches Gesundheitssystem. Helvetas fördert daher den Zugang zu wichtigen Nahrungsmitteln, aber stärkt die Frauen auch darin, sich Wissen und Selbstbewusstsein anzueignen. Sie sind genauso wichtig für eine sichere Schwangerschaft und gesunde Babys.
Schwache Mütter, kranke Babys
Die 29-jährige Mutter May Hla Koi ist inzwischen auf dem Weg zu einer Ansammlung von Häusern, die aus Bambus gebaut sind. Sie setzt sich auf ihre Türschwelle, um Kinder zu beobachten, die mit einer Schaukel aus Seilen und Kleidern spielen. Sohn Uche Wong ist in der Schule, die kleine Nua Wong will gestillt werden. Ein glückseliger Moment für Mutter und Kind. «Es ist so anders mit ihr», erzählt May Hla Koi. «Uche Wong war immer krank. Er war fiebrig, hustete, hatte Durchfall. Ich hatte zu wenig Muttermilch für ihn und wusste nicht, was tun. Ich hatte Angst, dass er immer so schwach sein würde. Ich wünschte, ich hätte damals schon gewusst, was ich heute weiss. Ich habe ein schlechtes Gewissen ihm gegenüber.»
In den Chittagong Hill Tracts sind die Dörfer weit verstreut, was die Versorgung schwangerer Frauen und stillender Mütter sehr schwierig macht. Die indigene Bevölkerung ist sozial und wirtschaftlich isoliert und althergebrachte Überzeugungen sind tief verankert. So auferlegten ihre Schwiegermutter und andere ältere Frauen May Hla Koi bei ihrer ersten Schwangerschaft eine strenge Diät: Sie durfte nur sehr kleine Portionen essen, Proteine wurden gestrichen. Nachmittags durfte sie keinesfalls pausieren. Das sollte verhindern, dass das Baby zu gross wird, denn zu grosse Babys, so die gängige Meinung, verursachen Geburtskomplikationen, besonders bei den verbreiteten Hausgeburten.
«Ich hatte oft Kopfschmerzen und Fieber. Meine Beine schwollen an, mir war schwindlig. Und ich war immer schlecht gelaunt, weil ich Hunger hatte», erinnert sich May Hla Koi. Nach der Geburt erhielt sie ein paar Wochen lang nur Reis zu essen, was die Muttermilchbildung hemmte. «Ich hatte nicht den Mut, Widerstand zu leisten.»
Nusrat Hossain, Freiwillige
Widerstand formiert sich
Der Mut kam vor zwei Jahren – in der Gestalt von Nusrat Hossain, der dynamischen Freiwilligen für Mütter- und Ernährungsberatung. Damals begann die erst 19-Jährige die einheimischen Familien zu besuchen. Sie brachte viel Enthusiasmus mit – und grosses Wissen über gesundes, abwechslungsreiches Essen für Mütter und Kinder, über Hygiene, Babypflege und das Stillen. Wissen, das sie bei einer der Schulungen gelernt hat, die eine lokale Partnerorganisation im Auftrag von Helvetas durchführt. «Am Anfang war es nicht einfach», sagt sie rückblickend. «Ich bin jung, ich bin Bengalin. Die Menschen hier trauten mir anfangs nicht über den Weg. Vor allem die Ältesten. Sie wiesen mich darauf hin, dass sie hier die Dinge schon seit langem auf ihre Weise machten und dass es funktioniere.» Nusrat ist jetzt bei Jeni Tripura zu Besuch, einer Freundin von May Hla Koi und Mutter von zwei Mädchen. Auch Jenis Geschichte ist die einer schwierigen Schwangerschaft und eines schwachen Babys. «Giomati war lange so apathisch, dass ich mich schämte, mit ihr zum Arzt zu gehen», erzählt die 29-Jährige. Sie fürchtete, man würde im Dorf denken, sie sei eine schlechte Mutter. Die Bambuswände ihres bescheidenen Hauses sind mit bunten Zeichnungen tapeziert: Regenbogen, Schmetterlinge, Blumen und Fantasietiere. Jeni betreut Kinder im Dorf – ein Ersatz für ihren unerfüllten Traum, Lehrerin zu sein.
Nusrat lächelt Jeni zu und nimmt gleichzeitig ernsten Blicks den Faden wieder auf: «Ich wollte nach meinem harzigen Start nicht einfach aufgeben. Ich habe mehrere Treffen mit führenden Gemeindemitgliedern organisiert. Ich habe ihnen erklärt, wie wichtig es ist, dass werdende Mütter richtig essen. Warum Schwangere sich ausruhen und regelmässig untersuchen lassen sollten. Ich bestand darauf, dass Frauen in einer Klinik gebären sollten. Und ich erklärte, wie wichtig es ist, dass Babys, wenn immer möglich, sechs Monate lang ausschliesslich gestillt werden.» Die Mütter hätten wegen der grossen Arbeitslast und weil es «immer so gemacht wurde» zu früh zugefüttert.
Jeni gab ihrer Erstgeborenen sehr früh Reis, May Hla Koi ihrem Sohn Honig, als er drei Monate alt war. Und beide verpassten den Moment, ihren Babys das Kolostrum zu geben, die allererste sehr nahrhafte Milch einer Mutter nach der Geburt. «Die erfahrenen Frauen sagten mir, die Erstmilch sei nicht gut und ungesund für Frischgeborene», erinnert sich May Hla Koi. «Jetzt weiss ich, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Das ist der Grund, warum Nua Wong ein gesünderes Baby ist, als ihr Bruder es je war.»
Wie es Nusrat gelungen sei, das Vertrauen der Dorfbevölkerung zu gewinnen? «Mit Fakten», sagt May Hla Koi. «Sie vernetzte uns mit der Gemeindeklinik, damit wir mit Ärztinnen und Ärzten reden konnten.» Das neu gewonnene Wissen gab May Hla Koi, Jeni und vielen anderen Frauen den Mut, für sich selbst und ihre Ungeborenen oder Frischgeborenen einzustehen. «Als ich mit meiner Tochter schwanger war, erklärte ich meiner Schwiegermutter, dass ich von nun an andere Essens- und Ruheregeln befolgen würde. Sie war nicht glücklich. Ich musste dafür kämpfen.» Dank der Unterstützung ihres Mannes gelang es ihr. «Es war eine Liebesheirat», verrät sie. Sie war damals bereits 19 Jahre alt. Zwei überraschende Umstände in einer Gegend, wo viele Mädchen viel zu früh verheiratet werden – mit schwierigen Folgen für ihre Zukunft.
Aussaat für die Zukunft der Familie
Als die kleine Nua Wong schläft, macht sich May Hla Koi auf den Weg zum Familiengarten. Unter einem Blätterdach gedeihen Flaschenkürbisse. Sie prüft jede Frucht sorgfältig, erntet nur die ganz reifen. Sehr zur Zufriedenheit von Aung Swesa Marma, dem lokalen landwirtschaftlichen Berater, den Helvetas ausgebildet hat, um den Anbau gesunder, ausgewogener Nahrungsmittel zu fördern. Sie prüfen den Inhalt eines Plasikbehälters, der mitten in den Kürbissen hängt. Darin befindet sich ein natürliches Mittel gegen Schädlinge. Sie hat in Aungs Schulungen gelernt, die richtigen Samen zu verwenden, organischen Dünger und natürliche Schädlingsbekämpfungsmittel herzustellen sowie sparsam zu bewässern. «Früher habe ich die Samen einfach kreuz und quer ausgeworfen und künstlichen Dünger gebraucht. Dann habe ich gewartet, bis das Gemüse wuchs. Mässig erfolgreich», sagt May Hla Koi. «Inzwischen habe ich meine Kosten gesenkt und die Erntemenge erhöht.» In ihrem Garten wachsen auch roter Amaranth, Radieschen und Bohnen – für den Eigengebrauch aber auch zum Verkauf. Der Erfolg hat sie und ihren Mann beflügelt. Sie haben Land dazugepachtet: «Ich will Papaya anpflanzen. Und Bananen, die Lieblingsfrüchte meiner Tochter.»
Mit ihrem Korb voller Kürbisse macht sie sich auf den Weg zur Sammelstelle, wo die Bäuer:innen ihre Ernte zu einem fairen Preis abliefern können. So umgehen sie den oft unfairen Zwischenhandel und sparen sich den teuren Transport zum weit entfernten Markt. Der Ausbau der Landwirtschaft verbessert nicht nur die Lebensgrundlage der Bauernfamilien, sondern der gesamten Gemeinschaft: Es gibt mehr und erschwingliches Gemüse für alle. «Bei uns helfen wir einander auch aus», erklärt May Hla Koi. Überschüssiges Gemüse wird oft verschenkt oder getauscht. In der Hochsaison kann sie sogar Erntehelfer:innen anstellen. Fast wichtiger ist ihr jedoch, dass sie ihr neu erworbenes Wissen teilen kann, damit auch Nachbarfamilien ihren Speiseplan verbessern können.
Der abwechlungsreiche Speiseplan
Die Essenszeit naht. Bevor May Hla Koi kochen kann, muss sie noch am anderen Ende des Dorfes Wasser holen. Es reicht kaum für alle im Dorf. Wasser ist in der Region der Chittagong Hill Tracts ein rares Gut, für den Garten hat es oft zu wenig. «Wir Bäuerinnen haben die Gemeinde schon oft gebeten, Flusswasser aus der Nähe über eine Leitung zum Dorf zu transportieren. Aber man ignoriert unsere Bittschriften», sagt sie. Ans Aufgeben denken die Frauen keineswegs.
Sorgfältig wäscht sie das Gemüse, bevor sie es mundgerecht zuschneidet. Auf dem Feuer brutzelt schon das Fleisch. In einer anderen Pfanne erhitzt sie etwas Öl für den Spinat. «Das braucht es, um die Vitamine zu lösen», erklärt sie. «Früher kochte ich den Spinat einfach in Wasser. Jetzt, mit dem Öl, schmeckt er uns auch besser.» Ein Duft von Gewürzen füllt die kleine Küche, die Schüsselchen voller Speisen sind auch ein Augenschmaus. «Es gab Zeiten, als wir nur Reis assen.» Jetzt kocht sie jeden Tag Gemüse, Linsen oder Kichererbsensuppe. Eier oder Fleisch gibt es zweimal die Woche.
Uche Wong, ihrem Sohn, der als Kleinkind so oft krank war, geht es dank der gesunden Ernährung sowie der hygienischen Sorgfalt seiner Mutter viel besser. Er liebt es, zur Schule zu gehen und danach mit Freunden herumzutoben. «Ich weiss jetzt, dass all die verschiedenen Nahrungsmittel wichtig sind für die Gesundheit und Zukunft meiner Kinder», erklärt May Hla Koi.
Die Zukunft vor Augen
Ihre Kinder sollen dereinst die Universität besuchen und Lehrer und Lehrerin werden, weil sie selbst es nicht werden konnte. In ihren Träumen erledigen Uche Wong und seine kleine Schwester Nua Wong die Hausaufgaben in einem Haus aus Stein. «Wir sparen dafür», sagt May Hla Koi. Aber nicht nur dafür. Aus dem Verkaufserlös ihres Gemüses hat sie jüngst ein Handy gekauft, damit sie Informationen und Ratschläge zu Babypflege abrufen kann. «Und einen Lippenstift. Den mag ich sehr.»
«Wir unterstützen mindestens 200 Frauen allein in diesem Dorf», erklärt Nusrat, die Mütterund Ernährungsberaterin. In einem kleinen Laden verkauft sie nützliche Sachen für Frauen und Kinder: Hygieneprodukte wie Binden, Windeln und Seife sowie Öl, Mehl und weitere Nahrungsmittel. Das Lokal ist ein kleiner Raum, den sie zusammen mit vier Frauen aus dem Dorf betreut. Ein Raum, wo Mütter spontan vorbeikommen, um Rat fragen und das Gewicht ihrer Babys überprüfen lassen können. «Mein Traum wäre es, diesen Frauenraum unternehmerisch erfolgreich zu führen, damit wir noch mehr Frauen stärken können», sagt Nusrat. Mit May Hla Koi und Jeni hat sie dafür tatkräftige Unterstützung an ihrer Seite.
Bangladesch im Kontext: Grosse Entwicklungsfortschritte, weiter Weg
Bangladesch ist eines der am dichtesten bevölkerten Länder der Welt. Die Wirtschaft ist über die vergangenen 20 Jahre stetig gewachsen – vor allem dank der exportorientierten Textilindustrie und Rücküberweisungen von Migrant:innen. Das Land hat sich relativ schnell von Covid erholt, doch steigende Rohstoff- und Energiepreise bremsen den Fortschritt. Dennoch verfolgt die Regierung die Vision, bis 2031 ein Land mit mittlerem Einkommen im oberen Bereich zu werden.
Trotz bemerkenswerter Fortschritte bei der Armutsbekämpfung steht Bangladesch weiterhin vor einigen grossen Herausforderungen: Das Land ist dem Klimawandel ausgeliefert, seine Folgen zerstören die Lebensgrundlagen vieler Menschen. Die wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten nehmen zu und sind vor allem in ländlichen und abgelegenen Gebieten wie den Chittagong Hills Tracts spürbar. In dieser Region an der Grenze zu Myanmar leben elf Ethnien, die sich bis vor 25 Jahren mit der Zentralregierung im Krieg befanden. Die indigenen Gemeinschaften werden nach wie vor an den Rand gedrängt, die Lage ist weiterhin angespannt.