Schule in Zeiten des Krieges

Mit der Unterstützung von Helvetas können Kinder in der Ukraine trotz ständiger Gefahr durch Angriffe der russischen Armee Kindergarten und Schule besuchen.
TEXT: Luzia Tschirky - 17. Februar 2025

Zwischen meterhohen Kiefern, mitten im sandigen Boden, stehen hinter dem Schulhaus von Nowoseliwka zwei kleine Häuschen in rotes Wellblech verpackt. Sie sind der Eingang zu den Schutzkellern der Schule. Gäbe es keinen Krieg gegen die Ukraine, stünden sie nicht hier. Denn würde Russland nicht gegen die Ukraine Krieg führen, müssten sich die Kinder der Schule nicht während des Luftalarms in Sicherheit bringen.

Hinter Gitterstäben führt eine Treppe unter die Erde. Mit jeder weiteren Stufe in die Tiefe werden die Kinderstimmen lauter. Schulen in der Ukraine sind dazu verpflichtet, alle Schüler:innen bei Gefahr in Schutzräumen unterbringen zu können. Ist das nicht möglich, müssen sie die Kinder online unterrichten.

Schuldirektorin Anna Pentowa geht über die Schwellen aus Beton voraus, zeigt auf die Belüftungsanlage und die schwere Türe. Für ukrainische Verhältnisse hat die Gemeinde Nowoseliwka sehr viel Geld in die Schutzkeller investiert. Am Ende fehlte das Geld für die Ausstattung. An Unterricht war so nicht zu denken. Helvetas ist mit umgerechnet 7000 Franken eingesprungen, nachdem sich die Schule um Unterstützung beworben hatte.

Reporterin Luzia Tschirky besuchte Helvetas-Projekte in der Ukraine: Das hat sie am meisten berührt

Gefahr auch fern der Hauptstadt

Wir befinden uns in einem Vorort von Poltawa, einer Stadt knapp 300 Kilometer östlich von Kyjiw. Kaum schliesst sich die Autotür am Bahnhof von Poltawa hinter mir, um zur Schule in Nowoseliwka zu fahren, heulen die Sirenen auf der Strasse. «Achtung! Luftalarm!» Der Bedarf nach Schutzräumen, selbst hier in der ukrainischen Provinz, wird gleich zu Beginn meines Besuchs deutlich.

In den ersten Tagen des russischen Angriffskrieges stiessen die russischen Soldaten auf bis zu 80 Kilometer nördlich von Nowoseliwka auf ukrainisches Territorium vor. Heute befindet sich die Frontlinie 180 Kilometer nordöstlich vom Dorf entfernt. Die russischen Raketen und Drohnen sind aber in allen Regionen der Ukraine eine Bedrohung. Im Sommer 2024 schlug keine zwei Kilometer von der Schule entfernt eine Rakete ein. 193 Kinder gehen hier zur Schule – vom Kindergarten bis zur Matura. Sie haben Glück. Jede fünfte Schule in der Ukraine musste schliessen, weil sie keine Schutzkeller haben.

Kinderleben in Kriegszeiten

«In nur drei Monaten werde ich schon 15 Jahre alt!», erklärt mir Nastja Oposchnjan. Auf meine Frage, wie es ihr im Schutzkeller geht, sagt sie: «Ich fühle mich hier in Sicherheit. Es ist grauenhaft, dass im Krieg auch Kinder sterben.» Auf ihren Knien sitzt Jewhenija, kurz Schenja. Das Mädchen geht in den Kindergarten. Während Nastja sich noch an eine Zeit ohne russische Raketen erinnern kann, kennen Kindergartenkinder wie Schenja gar keinen Alltag ohne Krieg. «Die Kleinen kommen gerne zu uns, wenn wir hier unten sitzen», erklärt die Jugendliche und legt schützend ihre Arme um Schenja.

Jedes Mal, wenn der Luftalarm losgeht, verlassen die Kinder die Klassenzimmer im Schulgebäude, um in den neu gebauten, unterirdischen Räumen neben der Schule Schutz zu suchen. Manchmal dreimal pro Woche. Dann teilen sich die Kinder einen grossen und einen kleinen Raum.

Neben Nastja sitzt Artur, wie sie Neuntklässler. Eingehüllt in eine dicke, schwarze Winterjacke schreibt er konzentriert in sein Heft. Dass Artur auf einer Bank sitzend an einem Tisch schreiben kann und nicht zusammengekauert auf dem Boden aus Beton sitzen muss, ist der Hilfe von Helvetas zu verdanken.

© Helvetas / Luzia Tschirky
Für Artur (Mitte) ist Präsenzunterricht besonders wichtig. Neben ihm sitzt Nastja mit Schenja (r.). Die Kleinen suchen im Schutzkeller gern die Nähe der Grossen. © Helvetas / Luzia Tschirky

Erst als Artur seinen Kopf hebt, fällt mir auf, dass er schielt und seine rechte Hand nicht öffnen und schliessen kann; seine Finger liegen nach innen gebogen, leicht verdreht auf dem Tisch. Ich stelle mich kurz vor und erkläre, warum ich hier bin. Artur nickt und erzählt von den ersten Tagen des Angriffskrieges: «Zu Beginn hatte ich grosse Angst.»

Ihre Spende für die Ukraine

Dank Ihrer Spende können wir beschädigte Häuser und Infrastruktur wiederaufbauen, neue Jobperspektiven schaffen und lokal verwurzelte Projekte unterstützen.
Freibetrag für die Ukraine

Er habe eine infantile Zerebralparese, erklärt mir seine Mutter, Tetjana Lubimowska, später zuhause am Küchentisch. «Vermutlich bekam er während der Geburt nicht genug Sauerstoff.» Für Artur ist Routine, ein gleicher Ablauf, daher sehr wichtig. Die Unterbrechungen des Unterrichts durch den Luftalarm sind eine grosse Herausforderung für ihn. Trotzdem sei es für ihn, den älteren ihrer beiden Söhne, besonders wichtig, dass er den Unterricht vor Ort besuchen könne. «Er braucht die Sozialisierung, damit er lernt, seine Gefühle auszudrücken. Onlineunterricht würde bedeuten, dass er in einen Computer oder Tablet spricht. Das ist nicht dasselbe.»

Während Artur aufgrund seiner Behinderung darauf angewiesen ist, vor Ort lernen zu können, sind es bei anderen Kindern die eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten der Eltern, die einen Präsenzunterricht dringend nötig machen. Zu diesen Kindern gehört der achtjährige Wadim Schewtschenko: «Ich habe zu Hause keinen Laptop und kein Tablet. Meine Mutter hat zwar kürzlich von einem Verwandten ein gebrauchtes Handy geschenkt bekommen, aber das funktioniert auch nicht wirklich gut.»

© Helvetas / Luzia Tschirky
Wladislaw, Arturs Bruder, findet im Fussballspiel Ablenkung. Im Training kann er den Krieg und die Gefahren im Alltag vergessen. © Helvetas / Luzia Tschirky

Artur und Wadim sind Kinder, die überdurchschnittlich stark vom Schutzkeller und dem Regelunterricht in einer Klasse profitieren. Doch für jedes einzelne Kind ist der Austausch mit Gleichaltrigen enorm wichtig. Sozialkompetenz über eine Software zu lernen, ist unmöglich, dazu braucht es den direkten zwischenmenschlichen Kontakt. Findet der Unterricht ausschliesslich online statt, gibt es keine Pausen, kein Mittagessen in der Schulkantine, keinen gemeinsamen Schulweg und keinen so unmittelbaren Austausch mit den Lehrpersonen.

Verlorene Jahre

Ein halbes Jahrzehnt bereits ist Lernen für Kinder in der Ukraine nur unter schwierigen Umständen und mit Unterbrüchen möglich, denn die russische Grossinvasion folgte direkt auf die Coronapandemie. Die Konsequenzen seien ständig wachsende Unterschiede zwischen den Kindern, erklärt mir die Lehrerin von Wadim, Tetjana Senenko: «Die Eltern haben sehr grossen Einfluss darauf, wie viel die Kinder ohne den Unterricht vor Ort lernen. Ich habe in der 2. Klasse Kinder, die für einen Text viermal so lange brauchen wie andere.»

Gemäss Zahlen der Uno vom Sommer 2024 haben rund 600’000 Kinder in der Ukraine weiterhin keinen Zugang zu Regelunterricht, sondern werden online geschult. Die negativen Auswirkungen des Krieges auf die Bildung der Kinder lassen sich mit Zahlen belegen. Im Oktober des ersten Kriegsjahres hatten 15-jährige Schüler:innen in der Ukraine im Vergleich zu gleichaltrigen Jugendlichen in anderen Ländern gemäss der PISA-Studie bereits einen Rückstand von zwei Jahren im Lesen, einem Jahr im Rechnen und einem halben Jahr in den Naturwissenschaften. Der Abstand dürfte in der Zwischenzeit grösser geworden sein.

«Die Unplanbarkeit des eigenen Lebens macht den Erwachsenen am meisten zu schaffen.»

Luzia Tschirky, Ukraine-Expertin

Erschwertes Lernen

Tetjana Senenko bemüht sich, ihren Schulkindern von der 1. bis zur 3. Klasse so viel wie möglich mit auf den Weg zu geben. Sie beugt sich über Wadim, um bei den Aufgaben zu helfen. Der Schutzkeller sei «normal», kommentiert dieser meine Frage. Nur mit der Konzentration kämpft der Zweitklässler, es sei manchmal sehr laut.

Die Stirn in Falten gelegt, wendet er sich wieder seinen Mathematikaufgaben zu. Die Wände des Schutzkellers werfen ein Echo. Bei mehreren Klassen aller Altersgruppen gleichzeitig in einem Raum ist der Lärmpegel entsprechend hoch. Ich bin beeindruckt, wie sich Wadim und Artur aller Umstände zum Trotz anstrengen, sich auf den Unterricht zu konzentrieren. Die Mutter von Artur ist überzeugt, dass der 15-Jährige den Anschluss längst verloren hätte, könnte er nicht den Präsenzunterricht besuchen.

Poltawa liegt nicht im Fokus der internationalen Hilfe in der Ukraine. Umso willkommener ist die Hilfe, die Helvetas leistet. «Als die Möbel geliefert wurden und wir alle geholfen haben, sie auszuladen, war ich sehr überrascht von der guten Qualität und den schönen Farben», erzählt Arturs Mutter Tetjana. Manchmal sitzen die Kinder auch in der Region Poltawa während Stunden im Luftschutzkeller, bis es Entwarnung gibt. Der Luftalarm dauert an diesem Vormittag, an dem ich die Schule besuche, knapp zweieinhalb Stunden.

Trotz Lärm und Kälte: Wadim versucht, den Schulstoff mithilfe seiner Lehrerin zu meistern.

Krieg bestimmt den Alltag

Im Haus der Familie Lubimowska mit Artur gibt es keinen Keller und schon gar keinen Schutzkeller. Tetjana und ihr Mann haben sich drei Jahre vor Ausbruch des Angriffskrieges mit dem Bau ihres eigenen Hauses einen Lebenstraum verwirklicht. «Niemand von uns hat damals daran gedacht, dass wir mal einen Schutzkeller bräuchten», erklärt Tetjana.

Die Unplanbarkeit des eigenen Lebens und die Ungewissheit, wie lange dieser Krieg noch andauern wird, macht den Erwachsenen am meisten zu schaffen. «Früher hatte ich einen Kalender am Kühlschrank, da habe ich immer notiert, was ich wann machen werde.» Heute bleibt der Kalender leer.

Wladislaw, der jüngere ihrer Söhne, rennt vor dem Haus seinem Fussball hinterher. «Die Kinder sind alles für mich. Ich kann mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen. Es ist so wichtig für mich als Mutter, meine Kinder im Schutzkeller in Sicherheit zu wissen.»

Der zehnjährige Wladislaw erzählt mir, wie einmal eine Rakete über seinen Kopf rauschte. «Sie flog so tief, dass ich die Nummer darauf ablesen konnte.» Tetjana schüttelt den Kopf: «Früher wurde den Kindern bei uns in der Schule beigebracht, was einen Traktor von einer Erntemaschine unterscheidet. Heute können die Kinder Raketentypen auseinanderhalten. Das ist einfach kompletter Wahnsinn.»

In der Zwischenzeit ist der Vater von der Arbeit nach Hause gekommen. Er wurde bisher nicht in die Armee eingezogen, zumindest diese Sorge bleibt Tetjana und ihren beiden Söhnen vorerst erspart.

Helfen, wo sonst niemand hilft

Während mehr als 90% der humanitären Hilfe von ukrainischen Organisationen geleistet wird, haben weniger als 1% von ihnen direkten Zugang zu internationalen Mitteln. Helvetas unterstützt deshalb mit Geldern der Glückskette kleinere, lokal geführte Organisationen in der Ukraine. Diese können bei Helvetas Ukraine Mittel beantragen, um selbst Unterkünfte für Geflüchtete zu bauen oder einzurichten, damit die Menschen im Winter einigermassen geschützt leben können. Andere Organisationen, die Helvetas finanziell unterstützt, begleiten kriegstraumatisierte Menschen mit psychosozialer Beratung durch lokale Fachleute. Die Organisationen sind alle tief in der Gemeinschaft verwurzelt und kennen sowohl den Kontext als auch die Bedürfnisse der betroffenen Bevölkerung und können gezielt reagieren, wie in Nowoseliwka oder Dykanka, wo dringend Schutzkeller gebaut werden mussten, damit Kinder weiterhin die Schule besuchen können. Das Besondere daran ist, dass diese Organisationen da Menschen unterstützen, wo sonst niemand hilft. Insgesamt hat Helvetas 125 lokal initiierte Anliegen mitunterstützt, davon 44 im Zusammenhang mit Schutzräumen – je nach Bedarf und Bedürfnissen vor Ort.

Indirekte Förderung für Frauen

1,3 Millionen Soldatinnen und Soldaten umfasst die ukrainische Armee im dritten Kriegsjahr. Die Mehrheit machen Männer aus und entsprechend häufig bleiben Frauen mit ihren Kindern zuhause zurück. Für die Mütter, deren Partner im Krieg kämpfen, prägt die Angst um den Vater ihrer Kinder den Alltag. Die Schutzräume und die Hilfe von Helvetas für deren Einrichtung gibt ein wenig Luft zum Atmen, inmitten der Ohnmacht.

Marina Kikot sitzt neben mir auf einem grünvioletten Bodenpuzzle, das die Kälte des Bodens absorbiert. Darauf lässt es sich auch im Schutzkeller gemütlich spielen für die Kleinsten. Auch diese Matten wurden mit Hilfe aus der Schweiz finanziert. Wir befinden uns in Dykanka. Die Ortschaft gehört zum nationalen Erbe der Ukraine. Einer der berühmtesten Schriftsteller der Ukraine, Nikolai Gogol, hat einst seinen literarischen Durchbruch gefeiert mit Erzählungen unter dem Titel «Abende auf dem Weiler bei Dykanka».

Die Lebensrealität in Dykanka ist 200 Jahre später leider nicht vom idyllischen Dorfleben geprägt, wie bei Gogol, sondern vom russischen Angriffskrieg. Im Luftschutzkeller spielt die dreieinhalbährige Tochter von Marina, Oleksandra, mit Spielzeugautos, einem kleinen Spielzeughund und Bauklötzen.

Oleksandra spielt im Schutzkeller des Kindergartens von Dykanka. Die Einrichtung konnte dank Spenden finanziert werden.

«Als der Krieg ausbrach, war meine Tochter gerade einmal sieben Monate alt», erzählt Marina. Der Vater des Mädchens dient seit 2015 in der ukrainischen Armee. «Viele Männer sind an der Front und die Frauen arbeiten, daher ist ein Schutzkeller sowohl für die Sicherheit als auch für den Lebensunterhalt sehr wichtig.» Die 33-Jährige streicht sich mit der Hand eine Strähne ihrer langen schwarzen Haare aus dem Gesicht: «Es geht auch um die psychische Verfassung. Statt allein zu Hause mit den eigenen Problemen zu sitzen, können wir arbeiten gehen und etwas Nützliches tun.»

Die Angst um das Leben ihres Mannes ist seit dem Kriegsausbruch am 24. Februar 2022 eine ständige Begleiterin. «Dieser ständige Stress wirkt sich auf das Leben der Ukrainer und Ukrainerinnen aus. Es ist unmöglich zu sagen, auf wen stärker und auf wen weniger stark. Ich denke, dass alle Kinder traumatisiert sein werden. Die Kinder, die jetzt in der Ukraine leben ebenso wie die Kinder, welche die Ukraine verlassen haben», sagt Marina.

Sie hat sich entschieden, in der Ukraine zu bleiben, den Umständen zum Trotz. Die Unterstützung aus der Schweiz kann den Menschen zwar nicht alle Ängste nehmen, aber mit der Hilfe und Unterstützung können die Menschen versuchen, selbst einen Weg durch den Alltag zu finden.

Luzia Tschirky ist Journalistin, Autorin, Podcasterin und Expertin für die Ukraine, Russland und Belarus. Sie war auf Reportage in Kyjiw, als Russland die Ukraine angriff, und berichtete danach laufend für SRF (Schweizer Radio und Fernsehen) aus der Ukraine.