«Wenn du in einer Position bist, in der du von anderen verlangen kannst, dass sie dich respektieren, mache einen Schritt vorwärts.» Azizbek Usmanov beobachtet, was die jungen und älteren Menschen, die mit geschlossenen Augen vor ihm stehen, tun. Dann sagt er: «Wenn du darüber entscheiden kannst, was für andere falsch oder richtig ist, mache wieder einen Schritt vorwärts.» Azizbek nickt und fährt fort: «Wenn du fürchten musst, dass du belästigt werden könntest, zum Beispiel von einem Beamten oder einem Lehrer, mache einen Schritt zurück.» Schliesslich sagt er: «Und wenn andere dir sagen, was du zu tun hast und was nicht, mache ebenfalls einen Schritt zurück.»
Wir befinden uns im Innenhof eines Hauses am Stadtrand von Aravan, einer Stadt mit 20’000 Einwohnerinnen und Einwohnern im Südwesten Kirgistans, nahe der usbekischen Grenze. Die Übung, die der 26-jährige Azizbek Usmanov hier leitet, ist Teil eines Trainings für Jugendliche und Erwachsene, das die Stiftung Progress Aravan, eine Partnerorganisation von Helvetas, organisiert. Ziel ist es, die Kluft zwischen den Generationen zu überbrücken und den Zusammenhalt in der Gesellschaft zu verbessern. Um das zu erreichen, werden junge Menschen ermutigt, am gesellschaftlichen Dialog teilzunehmen, und Erwachsene gebeten, ihnen zuzuhören. Über 10’000 Jugendliche haben das Training bislang besucht.
«Jetzt könnt ihr die Augen öffnen», sagt Trainer Azizbek. «Schaut, wo ihr steht. Erkennt ihr euch wieder auf dieser Position? Oder hättet ihr euch selber an einem anderen Ort erwartet?» Aibek Nurbek*, 17, schaut um sich. Er steht zuvorderst, auf der gleichen Linie wie die Eltern der 19-jährigen Diana. Sie und Dilbora Irisova, 16, stehen etwas weiter hinten; die 17-jährige Bibigul Bolotbek bildet das Schlusslicht. «Das ist ein gutes Abbild der Gesellschaft hier», sagt Ikramzhon Isakov, der Direktor von Progress Aravan. «Junge Menschen haben kaum Selbst- und Mitbestimmungsrecht. Die Erwachsenen entscheiden für sie, sagen ihren Kindern, was sie studieren oder wen sie heiraten sollen.» Für junge Frauen sei es noch schwieriger als für ihre männlichen Altersgenossen, «aber auch sie wählen ihren Beruf oder ihre Ehepartnerin selten selber aus».
Dieses traditionelle Rollenverständnis möchten Helvetas und Progress Aravan aufbrechen – auch um einer gefährlichen Entwicklung Einhalt zu gebieten: Aravan liegt ganz in der Nähe der Handelsmetropole Osch, mit fast einer halben Million Einwohnerinnen und Einwohnern nach der Hauptstadt Bischkek die zweitgrösste Stadt im Land. Eine wichtige Bedeutung hatte die Handelsstadt Osch schon zur Zeit der historischen Seidenstrasse. Doch Osch ist auch ein wichtiger Transitort auf dem «Heroin Highway», auf dem Drogen von Afghanistan nach Kasachstan und Russland geschmuggelt werden. Und seit dem Krieg in Syrien kommen auch radikal-islamische Prediger in die Gegend mit dem Ziel, Nachwuchs für die Truppen des Islamischen Staats (IS) zu rekrutieren. Aus Aravan sollen 300 junge Frauen und Männer für den IS in den Krieg gezogen sein; die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen.
Bibigul Bolotbek, 17, Mittelschülerin
Armut zwingt Eltern zur Migration
Dass die Gegend um Osch für die Anwerbung junger «Gotteskrieger» so attraktiv ist, hat viel mit der Armut zu tun, die hier im Süden Kirgistans ungleich grösser ist als im Norden – in einem Land, das ohnehin zu den ärmsten der Welt gehört. Sie treibt viele Menschen dazu, in Russland oder Kasachstan ihr Glück zu suchen und mit dem Geld die Daheimgebliebenen zu unterstützen: Jedes Jahr fliessen so zwei Milliarden Euro nach Kirgistan, was ein Viertel des Bruttoinlandprodukts ausmacht.
Zurück bleiben Kinder und Jugendliche, die durch den Wegzug der Eltern oft sich selbst überlassen sind oder bei Verwandten aufwachsen. So wie die Mittelschülerin Bibigul. Sie lebt bei ihrer 30-jährigen Schwester und deren zwei Kindern. Sowohl der Vater, der die Familie verlassen hat, als auch die Mutter arbeiten in Russland, er als Bauarbeiter, sie als Rezeptionistin in einem Hotel.
Geschichten wie die von Bibigul gibt es in der Gegend Abertausende. Aibek war zwei Jahre alt, als sich seine Eltern scheiden liessen. Da weder Mutter noch Vater den Jungen behalten wollten, kam er zu den Grosseltern. Sie sorgten gut für ihn, sagt Aibek, aber sie seien zu weit von seiner Lebenswelt entfernt, um seine Eltern ganz ersetzen zu können. Er besucht die Mittelschule und hat Informatik als Schwerpunktfach gewählt; das möchte er auch studieren.
«Jugendliche, die ohne Eltern aufwachsen, sind sehr empfänglich für Erwachsene, die ihnen Gehör schenken», sagt Ikramzhon Isakov. Das nützen Extremisten in der Gegend bewusst aus und gehen auf subtile Art und Weise vor. Oft treten sie gar nicht als religiöse Führer auf, sondern leiten zum Beispiel einen Sportclub, wo sie auf ungezwungene Art mit den vorwiegend männlichen Jugendlichen in Kontakt kommen. «Irgendwann laden sie die Jugendlichen dann in eine Moschee ein, wo sie nach und nach radikalisiert werden.» Dann brauche es nur noch wenig, um sie ins Ausland zu locken. «Oft geschieht das mit falschen Versprechen, zum Beispiel mit der Aussicht auf ein Studium in Ägypten», weiss der Direktor von Progress Aravan. «Doch dorthin kommen sie nie.»
Vertrauen lernen
Die nächste Übung heisst: «Lass dich fallen». Aibek stellt sich zwischen Trainer Azizbek und Eldiar, einen der Erwachsenen, die ihn gleich behutsam zwischen sich hin und her kippen werden. Die Herausforderung besteht für Aibek darin, darauf zu vertrauen, dass er aufgefangen wird. Er zittert am ganzen Körper, als er sich bereit macht. Azizbek spricht ihm Mut zu: «Vertraue uns, wir werden dich nicht fallen lassen.» Aibek schliesst die Augen, drückt seine Arme an den Körper – und lässt sich fallen. Ein leiser Schrei entfährt ihm, doch Eldiar fängt ihn auf und stösst ihn sanft zurück, in die Arme von Azizbek, der ihn gleich wieder zurückschubst. Nach zwei-, dreimal hin und her ruft Aibek: «Stoppt, bitte!» Azizbek hält ihn fest, Aibek öffnet die Augen. «So lange habe ich das noch nie geschafft», sagt er nicht ohne Stolz. «Lernen, den richtigen Menschen zu vertrauen, tut mir gut. Es gelingt mir immer besser.»
Auch bei Bibigul wirkt das Training, das sie seit zwei Jahren regelmässig besucht: «Ich bin heute ein anderer Mensch. Ich war immer sehr verschlossen, sagte kaum etwas, zog mich oft zurück. Jetzt wage ich sogar, mich gegenüber meinen Lehrern zu wehren, wenn ich mich ungerecht behandelt fühle.» Sie lacht. Auch Bibigul besucht die Mittelschule. Ihr Schwerpunktfach ist Wirtschaft, weil ihre Eltern das so wollten. Sie hat aber andere Pläne: Nach dem Schulabschluss möchte sie in Osch Journalismus studieren. «Mein Traum ist es, fürs Fernsehen zu arbeiten.» Damit solche Träume wahr werden können, erhalten die Jugendlichen die Chance, eine Berufsbildung zu machen. Die von Helvetas mitentwickelten Lerneinheiten für die persönliche und berufliche Entwicklung sind vom kirgisischen Bildungsministerium in den offiziellen Lehrplan integriert worden. Das bedeutet, dass nun landesweit Jugendliche ihr Selbstvertrauen und ihre Dialogfähigkeit stärken können für ein mutiges Nein gegen Gewalt und Extremismus.
Eine letzte Übung: Die Teilnehmenden müssen entscheiden, ob sie mit einer Aussage von Trainer Azizbek einverstanden sind oder nicht. Das zeigen sie, indem sie ins «Ja»- oder ins «Nein»-Feld stehen, die auf dem Boden markiert sind. Azizbek ruft: «Ich habe immer recht!» Sofort rennen einige der Teilnehmenden ins linke, die anderen ins rechte Feld. «Erwachsene sind engstirnig!» «Jugendliche müssen mit allem, was Erwachsene sagen, einverstanden sein!» Mal ist das eine, dann wieder das andere Feld stärker belegt. Bei der letzten Frage kommt es zu einer Überraschung. Azizbek sagt: «Für die Jugendlichen: Meine Eltern sollten meinen Ehepartner wählen! Für die Erwachsenen: Ich wähle die Ehepartner für meine Kinder!»
Sehr schnell füllt sich das «Nein»-Feld. Eine Person ist etwas unentschieden und steht schliesslich ins «Ja»-Feld: Es ist Progress-Aravan-Direktor Ikramzhon Isakov. Er, der jungen Menschen Selbstbewusstsein mit auf den Lebensweg gibt und ihnen beibringt, Nein zu sagen. Ausgerechnet er bekennt sich zu seinen konservativen Werten: «Ich weiss, dass ich in dieser Hinsicht eher traditionell denke. Ich glaube einfach, dass die Eltern mit ihrer Lebenserfahrung besser wissen, was gut für ihre Kinder ist.» Dann lacht er verlegen: «Ich bin wohl das beste Beispiel dafür, dass solche gesellschaftlichen Prozesse nicht von heute auf morgen passieren.» Auch Ikramzhon steckt mitten in den von ihm und Helvetas angestossenen Veränderungen. «Eine unserer grössten Herausforderung ist es, auch die Erwachsenen mit unseren Trainings zu erreichen. Für sie sind solche tiefgreifenden Veränderungen viel schwieriger als für junge Menschen.» Und dann sagt er noch, dass er natürlich mit sich reden lassen würde, wenn seine Tochter selber einen Mann wählen möchte. «Das Wichtigste ist, dass sie lernt, selbstbewusst zu sein.»
*Die Namen der Jugendlichen wurden geändert.
Das Projekt wird grösstenteils durch Spenden finanziert und mit Mittel aus dem Deza-Programmbeitrag ergänzt.