Ihre Dorfgemeinschaft wählte sie zur Gemeinderätin und 2019 wurde sie als Vorbild für Frauen im Berufsleben mit einem Preis ausgezeichnet. Ihre Unangepasstheit hat Saavedra deshalb nicht verloren. Sie ist kleiner als die meisten Männer in ihrem Dorf, und doch ist sie immer auf Augenhöhe mit ihnen. Mindestens. Schon als Mädchen hatte sie beschlossen, mit den traditionellen Erwartungen an eine Frau zu brechen. Sie wollte stark sein, von allen respektiert. Ein gutes Jahr vor unserem Besuch wurde Saavedra Ordoñez als Vertreterin von Esquencachi ins Bürgermeisteramt der Gemeinde San Pedro de Buenavista gewählt. Sie war damals 34 Jahre alt.
Für die Sache der Frauen
Esquencachi ist ein kleines Dorf in den Andenfalten im Süden Boliviens, einer Gegend, wo sich kahle Gebirgsund Hügelzüge aneinanderreihen, die meisten trocken und so weit gezogen, dass die Schafe, die Lamas und die Hirten mit ihren Hunden unwirklich verloren wirken. Verstreut in der Landschaft sind Minen, in denen so ziemlich alles gefördert wird, was die Erdkruste hergibt. Manche Bäche unterhalb der Minen leuchten gelb oderbrostrot. Die Senke mit dem Dorf Esquencachi, ihrem kleinen, sauberen Bach und einigen winzigen Waldstücken ist so etwas wie eine Oase in dieser unwirtlichen Welt.
Hier hat Helvetas zusammen mit der Deza ein Projekt umgesetzt, das die bestehenden Wassereinzugsgebiete schützt und neue schafft. Im praktischenTeil geht es darum, Stützmauern, Versickerungsgräben und Terrassen zu bauen und Berghänge aufzuforsten, damit das Wasser nicht ungebremst ins Tal fliesst. Im sozialen Teil des Projekts wird das traditionelle Verhältnis zwischen Männern und Frauen hinterfragt und verändert. Frauen sollen mitwirken, ja sind explizit aufgefordert, mitzuplanen, mitzureden und mitzuentscheiden. Das ist der Hauptgrund, warum Saavedra im Helvetas-Projekt mitarbeitet. «Die Frauen sind hier aktiv Handelnde, sie bestimmen mit. Sie haben das Projekt zu ihrer eigenen Sache gemacht», sagt sie.
Saavedra ist für Helvetas in diesem Projekt die wichtigste Aktivistin. Sie selber sieht das anders; sie rückt die Leistungen der Gemeinschaft in den Vordergrund. «Saavedra wird von allen respektiert», sagt ihr Vater, der 82-jährige Crecencio Ordoñez Mantan, ein alter Bauer, der drei Rinder und 30 Schafe besitzt. Wie allen Männern und den meisten Frauen des Dorfes war für ihn lange Zeit klar, dass Frauen in der Politik nichts zu suchen haben. Jetzt ist er stolz auf seine Tochter, die sich ihm widersetzte.
Saavedra Ordoñez, Gemeinderätin
Ziele setzt, als Mutter zu werden.
Von klein auf eine Kämpferin
Es war Saavedra, die ihren Vater dazu brachte, sein Frauenbild zu revidieren. Zwar fügte sie sich nach Abschluss der Volksschule den Erwartungen ihrer Eltern, arbeitete in Haus und Hof mit, doch sie fühlte eine tiefe Trauer darüber, dass sie keine weiterführende Schule besuchen sollte. Was ihr halbwegs darüber hinweghalf, waren die kleinen und grossen Rangeleien, die sie mit Jungen des Dorfes austrug.
«Ich war eine Quarimacho», sagt sie. Das ist der halb spöttische, halb bewundernde Quechua-Ausdruck für Mädchen, die immer dort sind, wo die Buben sind und machen, was die Buben machen. Fussball spielen. Reifen treiben. Raufen. «Wie die Jungen am ich oft mit schmutzigen und zerschundenen Füssen in die Schule», erzählt Saavedra. Fussball ist bis heute Saavedras Leidenschaft geblieben. Wenn sie ausgelaugt ist von den Sitzungen oder von der Arbeit am Computer, wendet sie sich an die WhatsApp-Gruppe, die sie auf ihrem Smartphone unter «Las autónomas del futból» abgespeichert hat. «Eine Partie Fussball lädt meine Batterien wieder auf», sagt sie. «Egal, wer gewinnt.»
Damals, als sie nicht zur Schule gehen durfte, begann Saavedra, im Rahmen der Kirche zu arbeiten. Der Padre wurde schnell auf sie aufmerksam und beschwor sie, ihre Talente zu nutzen. Er organisierte für sie ein Stipendium an einer Internatsschule in Cochabamba. Saavedra schrieb sich heimlich ein. Dem Vater erzählte sie erst am Vorabend ihrer Abreise davon. «Morgen gehe ich, und du musst mich gehen lassen», sagte sie ihm. Saavedra war damals 16 Jahre alt. Der Vater war schockiert. Am Tag darauf begleitete er seine Tochter dennoch auf dem vierstündigen Fussmarsch ins Nachbardorf, von wo der Bus in die Stadt fährt. Saavedra war euphorisch und ängstlich, der Vater betrunken und sentimental.
Jetzt, fast zwanzig Jahr später, kann Saavedra entspannt von ihren ersten Schritten in der fremden Schulwelt erzählen. Vom Heimweh nach ihrem Dorf. Vom ersten Jahr am Internat, wo sie gleichzeitig Spanisch lernte und den Stoff von drei Jahren Sekundarschule nachbüffelte. Von den Mitschülerinnen aus halbwegs wohlhabenden, halbwegs modernen städtischen Familien, die zu den Bauernmädchen auf Distanz gingen.
2019 wurde Saavedra Ordoñez von einer bedeutenden bolivianischen Zeitung als eine von sieben Frauen für ihre Verdienste für die Sache der Frauen ausgezeichnet – als eine Frau, die für Chancengleichheit kämpft und beruflich in eine Domäne vorgedrungen ist, die in ihrem Land Männern vorbehalten war. Das macht Saavedra zum Vorbild. Frauen sollten sich so lieben, wie sie sind, sagte sie im Zeitungsinterview, aber auch Mut beweisen und sich nicht beirren lassen, denn «Angst vernichtet unsere Träume».
Arbeitsreicher Weg in die Politik
Nach dem Internat gab sie in San Pedro de Buenavista Nachhilfe. Sie engagierte sich in Projekten von NGOs – so auch im Wasserprojekt von Helvetas. Bei Versammlungen im Dorf ergriff sie das Wort. Sie kniete sich in die Arbeiten hinein, übernahm undankbare Aufgaben und unbezahlte Funktionen. In der
Schweiz würde man sagen: Sie absolvierte die politische Ochsentour.
Saavedra erwarb sich die Achtung der Dorfbevölkerung und wurde von dieser als Vertreterin von Esquencachi in den Gemeinderat der riesigen Gemeinde San Pedro de Buenavista gewählt. Der Rat hat seine Büros im Bürgermeisteramt, erlässt Verordnungen und Gesetze, führt eigene Geschäfte, und überprüft die Geschäfte des Bürgermeisters. Als Verantwortliche für «Desarollo Humano», für soziale Entwicklung der Gemeinschaft also, kümmert sie sich um Schulen und Bildung und um Geschlechterfragen.
Und sie setzt um, was sie als Mitglied der basisorientierten «Bewegung für die Organisation des Volkes» immer gefordert hat: Sie schafft Kanäle für die Anliegen und Ideen der Bevölkerung, und sie zieht die Betroffenen in alle Vorhaben der Verwaltung mit ein, in Schulfragen ebenso wie bei der Wasserverteilung oder beim Bau neuer Strassen. «So wie Helvetas das macht», sagt sie.
Sie hatte genau beobachtet, wie das Projektteam in ihrem Dorf das Projekt für Wassereinzugsgebiete aufgleiste. «Sie sind nicht mit Experten eingefahren,
sondern sie haben von Anfang an gefragt, was unsere Leute wollen und was wir als Massnahmen vorschlagen.» Und genau so wollte sie es in ihrem neuen Amt machen.
Gegen Machos – und Machistas
Saavedras Unterkunft in San Pedro de Buenavista liegt zwei Häuserblocks vom Rathaus entfernt. Es ist ein einziges Zimmer. Hier lebt sie zusammen mit Griselda, ihrer Nichte. Sie macht für diese alles, was auch eine Mutter machen würde: kochen, waschen, trösten, Mut zusprechen. Sie bezahlt Griseldas Schuluniform und ihre Bücher.
«Ich habe Glück», sagt die 17-Jährige. Sie meint die Chance, von Saavedra lernen und an einer Welt mitbauen zu können, in der Männer und Frauen gleichberechtigt sind. Gasrechaud, Tisch, Bett, Plastikschrank für die Kleider, Lampe, zwei Rucksäcke. Es ist ein karger Haushalt. Hinzu kommen einige Bücher. Und da sind auch noch die Medaillen und Pokale, die Saavedra und ihre Freundinnen im Fussball gewonnen haben, glänzende Objekte aus einer anderen Welt. Saavedra erzählt aus ihrem Leben, von der gewalttätigen Gesellschaft, in der sie lebt.
In Bolivien leben Millionen von Menschen am Rand der Gesellschaft. Mit fast 60’000 Anzeigen ist häusliche Gewalt das häufigste Anzeigedelikt; 128 Frauen wurden 2018 von ihren Männern, Brüdern oder Vätern getötet, 2019 verzeichnete das Land noch mehr Femizide. «Die Männer führen sich auf wie Sieger in einem Kampf, der in Wirklichkeit nie gekämpft worden ist», sagt sie. Meistens ist Alkohol im Spiel, doch Saavedra betont: «Das Problem ist nicht der Alkohol. Wer das behauptet, will nur das wahre Problem verschleiern, den Machismo.»
Dennoch hält sie sich mit Schuldzuweisungen an die Männer auffallend zurück: «Wir sind alle Machistas. Auch die Frauen. Der Machismo wird nicht in der Schule gelehrt, sondern daheim. Es sind die Frauen, die den Buben das Weinen untersagen und die Mädchen rosarot kleiden. Es sind die Frauen, die ihren Mädchen schlanke, blonde Puppen schenken, die so gar nichts zu tun haben mit den indigenen Frauen.»
Und dann sagt sie noch einen sehr überraschenden Satz: «Ich bin nicht Feministin.» Warum nicht? «Feministinnen schieben den Männern die Schuld zu. Aber so einfach ist es nicht.» Mit solchen Aussagen eckt sie an. Manchmal hört sie den Vorwurf, sie mache die Frauen schlecht. «Aber das tue ich nicht.» Sie kritisiere nicht Frauen oder Männer, sie kritisiere die gesellschaftlichen Verhältnisse.
Auf Tuchfühlung mit der Basis
Wann immer sie kann, reist Saavedra mit Griselda hinauf in ihr Dorf. Es ist eine lange Reise. «Dort ist meine Heimat», sagt sie. «Dort sind meine entscheidenden Aufgaben.» An diesem Abend trifft sich in einem abgelegenen Schulhaus die Basisbewegung, der sie seit Jahren angehört. Es sind abenteuerliche
Gestalten mit wettergegerbten Gesichtern und Staub in den Kleidern. Bergbauern und Mineros. Saavedra ist eine von ihnen. Die Anwesenden hören ihr zu. Und sie hört genau hin. Noch ist es Vorgeplänkel. Erst am Abend werden wahrscheinlich Meinungen aufeinanderprallen. Es wird kalt sein, doch das werden alle aushalten, und die Cocablätter, die sie kauen, werden sie wachhalten, wenn nötig bis zum Morgen.
«Wenn wir uns etwas vornehmen und ein Ziel verfolgen, wird sich der Erfolg einstellen», sagt Saavedra später. So hat sie es selbst erfahren. Sie überwand viele Hindernisse und hat in einer streng hierarchischen Administration das Rathaus zur Basis hin geöffnet und Entscheidprozesse transparent gemacht. «Wenn jemand behauptet, etwas sei unmöglich, ist das nur eine Ausrede für die eigene Faulheit», sagt sie. «Nichts ist unmöglich, aber es ist auch nichts gratis.»
Saavedra streut keine Blumen, wenn sie spricht. Sie will nicht gefallen, nicht beeindrucken. Sie ist, wie sie ist. Kämpferisch. Entschlossen. Unangepasst. Genau das hatte sie schon zu einer so wertvollen Partnerin im Wasserprojekt von Helvetas gemacht, als es darum ging, die herkömmlichen Geschlechterrollen zu durchbrechen. Erst als Dorfbewohnerin, später auch als Gemeinderätin. Sie bleibt, was sie immer war: eine engagierte Mitbürgerin von Esquencachi.
Griselda sagt, Saavedra sei ihr Vorbild. «Wenn ich am Sonntag zu lange liegenbleibe, scheucht sie mich auf und sagt, ich solle ein Buch lesen.» Anders als ihre Tante ist sie zurückhaltend und schüchtern. Sie will Kommunikation, Finanzen und Administration studieren. «Ich möchte werden wie Saavedra», sagt sie und wirkt unsicher dabei. «Wir beide haben einen starken Charakter», sagt Saavedra. Es ist als Ermunterung gemeint.
Anfang November zählte das Land insgesamt 142’000 Coronafälle und 8700 Todesfälle aufgrund von Covid-19. Schon früh hat Bolivien Massnahmen eingeleitet, um die am stärksten gefährdeten Menschen zu schützen. Gleichzeitig hat der Staat Steuern gestundet, die Preise für Gas und Dienstleistungen gesenkt und Eltern mit Kindern in öffentlichen Schulen, älteren Menschen, Schwangeren oder Menschen mit Behinderungen Geld zukommen lassen, um die grösste Not zu lindern.