CHILE STUDENTEN PROTEST | © Keystone/EPA/Felipe Trueb

Zivilgesellschaft in der Abwärtsspirale

Die Corona-Pandemie als Vorwand für vermehrte Repression
VON: Bernd Steimann - 09. Juli 2021
© Keystone/EPA/Felipe Trueb

Die Lage für zivilgesellschaftliche Akteure hat sich im letzten Jahr zusehends verschlechtert. Autoritäre Regierungen haben die Corona-Pandemie genutzt, um soziale Proteste zu unterbinden, zivile Rechte ausser Kraft zu setzen und die Medienfreiheit drastisch einzuschränken. Zu diesem Schluss kommt die NGO-Allianz CIVICUS in ihrem jüngsten Bericht. Und sie geht davon aus, dass die Repression die Pandemie überdauern wird.

«Die Welt steht heute nicht dort, wo es sich viele Akteure der Zivilgesellschaft vor 10 Jahren erhofft hatten.» Dies ist die ernüchternde Erkenntnis des aktuellen CIVICUS-Berichts zur weltweiten Lage der Zivilgesellschaft. Der Bericht analysiert das von der Corona-Pandemie gezeichnete Jahr 2020 und stellt fest, dass die vor zehn Jahren geäusserten grossen Hoffnungen auf einen globalen Durchbruch von Demokratie und Meinungsfreiheit sich in keiner Weise erfüllt haben – im Gegenteil.

Seit 2010 veröffentlicht die globale NGO-Allianz CIVICUS, die sich dem Schutz ziviler und politischer Rechte verschrieben hat, alljährlich ihren Bericht zur Situation der organisierten Zivilgesellschaft auf allen Kontinenten. Längst gelten die Berichte als globale Referenz, wenn es um den Handlungsspielraum von NGOs und lokalen Bewegungen geht. Dabei stützt sich CIVICUS jeweils auf eine Vielfalt von Konsultationen und Informationen ihrer Mitgliedsorganisationen (darunter Helvetas) und erstellt gleichzeitig ein umfassendes Länder-Monitoring, das 196 Staaten umfasst.

Ende 2020 lebten weltweit nur gerade 13 Prozent aller Menschen in jenen 42 Ländern, in denen die grundlegenden zivilen und politischen Rechte weitgehend respektiert und geschützt werden. Die anderen 87 Prozent, rund 6,5 Milliarden Menschen, werden in der Ausübung dieser Rechte wiederholt und massiv eingeschränkt – sei es in Bezug auf Organisations- oder Versammlungsfreiheit, auf freie Meinungsäusserung, auf den Schutz vor Diskriminierung oder auf Pressefreiheit. In 23 Ländern besteht überhaupt kein Spielraum mehr für zivilgesellschaftliches Engagement, darunter in Ägypten, Laos oder Vietnam. In 45 weiteren Ländern wird die Situation als «repressiv» eingestuft, etwa in Indien, Pakistan, Bangladesch sowie zwei Dutzend afrikanischen Staaten. Insgesamt hat sich die Lage von zivilgesellschaftlichen Akteuren seit 2019 weiter verschlechtert: elf Länder sind in der Bewertung weiter zurückgefallen, während sich die Situation nur in zwei Ländern (Sudan, DR Kongo) etwas verbessert hat, aber noch immer «repressiv» ist.

Den «Stresstest» Corona nicht bestanden

Ohne Zweifel hat die Corona-Pandemie viel zu dieser Entwicklung beigetragen. Als globaler «Stresstest» hat sie zahlreichen Institutionen schonungslos ihre Grenzen aufgezeigt. Dies zeigte sich vielerorts in der mangelhaften bis inexistenten Vorbereitung auf einen solchen Ernstfall, im unzureichenden Gesundheitssystem und in der daraus resultierenden signifikanten Übersterblichkeit, auch in der Schweiz. Eklatant ist das Systemversagen der internationalen Staatengemeinschaft, die in Bezug auf Impfstofflieferungen an Entwicklungsländer trotz anderslautender Versprechungen eine weitgehende Uneinigkeit offenbarte. Zusammen mit der Tatsache, dass die weltweiten Einkommens- und Vermögensunterschiede seit Beginn der Pandemie weiter zugenommen haben, stellt der weitherum vorherrschende Impfnationalismus der Politik ein denkbar schlechtes Zeugnis aus.

Wer allerdings gehofft hatte, dass sich gewisse Regierungen angesichts ihres dürftigen Leistungsausweises eines Besseren besinnen würden, sah sich bald getäuscht. Für viele Herrschende war die Pandemie schon früh ein willkommener Vorwand, um die öffentliche Debatte (noch) stärker zu kontrollieren und kritische Stimmen mit aller Härte zu unterdrücken:

  • Demonstrationen: Zahlreiche Regierungen gingen im letzten Jahr noch stärker gegen Kundgebungen vor als bisher und verboten mit Verweis auf Corona-Schutzmassnahmen jegliche Form von öffentlichem Protest. Wurde dennoch protestiert, fiel die Reaktion der Behörden gemäss CIVICUS oft härter aus denn je: Massive Polizeigewalt führte wiederholt zu Verletzten und Toten, Massenverhaftungen und überfüllten Gefängnissen – wo sich das Virus dann erst recht verbreiten konnte.
  • Wahlen: Das Verbot öffentlicher Kundgebungen diente auch dazu, die politische Opposition gezielt auszuschalten, so etwa in Tansania oder Uganda. Gleichzeitig instrumentalisierten Politiker wie Indiens Premier Narendra Modi ihre vermeintlichen Erfolge im Kampf gegen die Pandemie, indem sie unter anderem grundlegende Schutzmassnahmen bei Wahlveranstaltungen demonstrativ missachteten – mit den bekannten, fatalen Folgen. In Sri Lanka oder Singapur wiederum führten die Amtsinhaber trotz Einschränkungen Neuwahlen durch, lenkten so von ihrer Pandemie-Politik ab und verhinderten dadurch eine kritische öffentliche Debatte.
  • Medien: Gleichzeitig wurde die Medienfreiheit weiter eingeschränkt. Insbesondere in populistisch und/oder autokratisch regierten Staaten wurden Medien, welche die offizielle Corona-Politik hinterfragten, hart angegangen. So wurden in Tansania unter dem im März 2021 verstorbenen Präsidenten John Magufuli gleich mehrere Medien und Medienschaffende gesperrt oder gebüsst, weil sie dessen Haltung kritisierten. Er hatte sein Land früh als coronafrei erklärt und jegliche Schutzmassnahmen abgelehnt. In der Türkei wurden mit Hilfe des neuen «Internetgesetzes» tausende Social-Media-Accounts zensuriert, weil sie sich kritisch zur Pandemie-Politik der Regierung Erdogan geäussert hatten. Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro hetzt gegen kritische Medien und versucht so, das dramatische Ausmass der Pandemie in seinem Land herunterzuspielen. Und in den USA wurde die Glaubwürdigkeit von traditionellen Leitmedien während der Trump-Administration wiederholt von höchster Stelle hinterfragt, wann immer diese nicht im Sinne der Regierung berichteten (und das war oft der Fall). An sich nichts Neues, wurde diese Tendenz durch die Pandemie nochmals deutlich beschleunigt. Das ist eine besorgniserregende Entwicklung – auch für vermeintlich stabile Demokratien, die auf funktionierende öffentliche Debatten angewiesen sind.

Die Pandemie geht vorbei, die Repression bleibt

Auch wenn sich die Lage derzeit an manchen Orten zu entspannen scheint – die Realität hat sich für die Zivilgesellschaft dauerhaft und zum Schlechten hin verändert. Der CIVICUS-Bericht hebt denn auch hervor, dass im vergangenen Jahr viele Länder deutlich weiter gegangen sind als nötig und ohne demokratische Mitsprache im Schnellverfahren neue Pandemiegesetze einführten, und «dass zumindest einige neue Befugnisse bleiben werden, insbesondere dort, wo Notstandsgesetze ohne Verfallsdatum verabschiedet wurden». So führte etwa Ungarn im März 2020 ein neues Gesetz ein, das für die Verbreitung von «Falschinformationen» zur Pandemie bis zu fünf Jahre Gefängnis vorsieht. Wann eine Information falsch ist und wann nicht, liegt im Ermessen der regierungsnahen Justiz. Das ist eine massive Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit unter dem Deckmantel von Corona.

Dabei hatten die Regierungen durchaus eine Wahl. Kontrolle und Repression waren bei weitem nicht die einzige Möglichkeit, um die Lage unter Kontrolle zu bringen und die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Länder wie Neuseeland, Südkorea oder Taiwan sowie viele europäische Staaten zeigten, dass es auch anders ging: Ihre Regierungen bekamen das Virus einigermassen unter Kontrolle, gewannen das Vertrauen der Öffentlichkeit und kommunizierten die ergriffenen Massnahmen klar und deutlich, während sie die zivilen und politischen Rechte weitgehend respektierten und die demokratischen Freiheiten aufrechterhielten. Das gilt auch für die Schweiz, wo die Bevölkerung sogar ein zweites Mal über das «Covid-19-Gesetz» abstimmen können wird. Das zeigt: Der von vielen Regierungen eingeschlagene Weg der Unterdrückung war keine Notwendigkeit, sondern eine bewusste Wahl.