Verschiedene Regierungen nutzen die Corona-Pandemie, um soziale Proteste zu unterbinden und zivile Rechte ausser Kraft zu setzen. Bei der Krisenbewältigung hingegen versagen sie oft. Es sind die lokalen Behörden und zivilgesellschaftlichen Organisationen, die die betroffenen Menschen unterstützen. Angesichts der sich verschärfenden sozialen Ungleichheiten dürften die gesellschaftlichen Proteste daher langfristig eher zunehmen als zurückgehen.
Seit Wochen kommt es in der Schweiz immer wieder zu öffentlichen Kundgebungen gegen die Corona-Massnahmen des Bundesrats. Bislang bleiben sie überschaubar und erreichen nicht das Ausmass wie etwa in Berlin oder den USA, wo Massenproteste gegen den Lockdown teilweise in Gewalt ausarten. Die Parolen und Transparente wiederspiegeln dabei die unterschiedlichsten Beweggründe: Impfgegner gehen ebenso auf die Strasse wie Rechtsextremisten und Anhänger von Verschwörungstheorien, und die notorischen Staatsgegner sind ohnehin nie weit.
Sorge und Vertrauen der Bevölkerung, Vorsicht des Bundesrats
Unter den Demonstrierenden gibt es aber auch Menschen, die sich um ihre grundlegenden Bürgerrechte sorgen. Wenn sich Menschen von einem Tag auf den anderen nicht mehr sehen und versammeln dürfen, wenn Bildungseinrichtungen geschlossen werden, wenn sich das Parlament eine Zwangspause verordnet und die Regierung gleichzeitig aufgrund der «ausserordentlichen Lage» zu Notrecht greift, dann gerät das gesellschaftliche Gefüge langsam, aber sicher ins Wanken.
Nun ist das in der Schweiz aber noch kein Anlass zu übertriebener Sorge. Immerhin war es gewissen Bundesräten schon nach einigen Wochen «nicht mehr wohl» in ihrer Haut, das Parlament kam während einer ausserordentlichen Session Anfang Mai rasch wieder auf Betriebstemperatur und trifft sich im Juni zur ordentlichen Sommersession. Zudem hat eine grosse Mehrheit der Bevölkerung weiterhin grosses bis sehr grosses Vertrauen in den Bundesrat. Die direkte Demokratie wird diese Krise wohl einigermassen unbeschadet überstehen, zumal die Regierung mittlerweile weitgehende Lockerungen beschlossen hat.
Autoritäre Zentralregierungen: Repression, gepaart mit Unfähigkeit
Anders sieht es in vielen anderen Ländern der Welt aus. 2019 war ein regelrechtes Jahr der sozialen Unruhen: Von Hongkong über den Iran und den Mittleren Osten bis nach Südamerika gingen die Menschen zu abertausenden und teilweise über Monate hinweg auf die Strassen, um ihrem Unmut über Korruption, Misswirtschaft und Unterdrückung Luft zu verschaffen. Manche Regierung geriet dadurch unter massiven öffentlichen Druck, der Präsident Boliviens ergriff sogar die Flucht. Kurz: es rumorte allenthalben.
Damit ist nun, 2020, plötzlich Schluss. Viele Regierungen werden nicht unglücklich gewesen sein über die Gelegenheit, mit Verweis auf Corona drastische Massnahmen ergreifen zu können und jegliche Menschenansammlungen per sofort und unter Androhung hoher Strafen strikte zu verbieten. Seither werden Menschen rund um die Welt daran gehindert, sich zu treffen, Veranstaltungen abzuhalten oder Kundgebungen durchzuführen. Gleichzeitig haben zahlreiche Regierungen Notrecht und neue Überwachungsmassnahmen eingeführt – der öffentliche Widerstand bleibt so auf den virtuellen Raum beschränkt und entfaltet entsprechend wenig Wirkung. Auch parlamentarische Auseinandersetzungen finden kaum statt, wurden doch viele Parlamente ausser Kraft gesetzt.
Damit verschärft sich eine Tendenz, die schon vor Corona beobachtet werden konnte: Viele Regierungen beschneiden immer mehr zivile Grundrechte und tun dies auf eine zunehmend unverfrorene Art und Weise. CIVICUS, eine globale Allianz zum Schutz ziviler Rechte, beobachtet und dokumentiert diese Entwicklung seit Jahren. Kürzlich berichtete die Allianz auch darüber, wie Medienschaffende infolge Corona noch stärker unter Druck geraten als ohnehin schon, weil sie kritisch über die getroffenen oder unterlassenen Massnahmen der Regierung berichtet hatten – so etwa in China, den Philippinen, Kambodscha oder in Indien.
Die gegenwärtige Entwicklung ist aber darum bemerkenswert, weil es viele dieser Regierungen gleichzeitig verpassen, ihre Bevölkerung ausreichend vor dem Virus zu schützen oder die Kollateralschäden durch die ergriffenen Massnahmen wirksam abzufedern. Fast überall schnellen die Arbeitslosenzahlen in die Höhe, verschärfen sich Armut und Hunger. Doch viele Regierungen vermögen keine überzeugenden Antworten zu geben, sei es wegen Geldmangel, Inkompetenz oder beidem. Oder sie ignorieren, schlimmer noch, leugnen das Virus und setzen ihre Bevölkerung auf fahrlässige Art und Weise der Ansteckungsgefahr aus.
Vertrauen in Lokalbehörden und Zivilgesellschaft
Doch wo der Staat versagt, springen oft lokale Organisationen und Gemeinschaften in die Bresche, um essenzielle Dienstleistungen zu erbringen und die abwesenden Regierungen zu ersetzen. Eine lesenswerte Übersicht der unabhängigen Organisation Carnegie Endowment for International Peace berichtet, wie sich etwa in Tunesien innert Kürze rund 100'000 Menschen über soziale Medien vernetzt haben, um rasch und unkompliziert 24 lokale Zentren zur Unterstützung der Menschen während des Lockdowns aus dem Boden zu stampfen. In Brasilien wurde eine Kampagne gestartet, um die Desinformation der Regierung zu kontern und die Menschen über die reelle Gefahr, die vom Coronavirus ausgeht, aufzuklären. Anderswo beobachten NGO genau, welche Massnahmen ihre Regierung trifft und wie diese umgesetzt werden. So kam es in Chile zu koordinierten Protesten mit Pfannen- und Pfeifkonzerten auf Balkonen oder in Singapur zu öffentlichen Kampagnen für die Rechte und den Schutz von Arbeitsmigranten.
Vielerorts machen Lokal- und Regionalbehörden eine weitaus bessere Figur in der Krisenbewältigung als die Zentralregierungen, denn sie kennen die lokalen Bedürfnisse. Nicht wenige Staatspräsidenten haben in den letzten Wochen Entscheide über unpopuläre Massnahmen an die Regionen abgeschoben. Nun aber, da die Infektionszahlen zu sinken beginnen, reklamieren sie den Erfolg für sich. Das kommt nicht überall gut an, wie die sinkenden Popularitätswerte gewisser Staatsoberhäupter belegen.
Gerade in zentralistisch und/oder autoritär regierten Staaten scheint die Epidemie damit zu einem Vertrauensschwund in die Zentralregierung zu führen, während das Ansehen von zivilgesellschaftlichen Bewegungen und Organisationen wie auch von Lokalregierungen eher zunimmt. Für gewisse Regierungen könnte das auf Dauer durchaus zum Problem werden – dann nämlich, wenn die Coronakrise dereinst abflachen und die öffentliche Debatte wieder von anderen Themen beherrscht wird. May Makki vom Arab NGO Network for Development (ANND) brachte es in einem Webinar zum Thema kürzlich auf den Punkt: «Der Mangel an staatlichen Diensten bei der Bekämpfung dieser Pandemie befeuert bloss die wachsende Frustration der Zivilbevölkerung über die staatliche Politik. Dies führt zu einem Anstieg des virtuellen Aktivismus, der sich nach der Pandemie höchstwahrscheinlich in stärkeren Protestwellen niederschlagen wird. (...) Nach den Erfahrungen aus dem arabischen Raum treten soziale Bewegungen nämlich gerade dann auf, wenn der zivile Raum am stärksten schrumpft.»
Gelingt es den Machthabern also nicht, die sich gegenwärtig verschärfenden sozialen Ungleichheiten rasch zu mindern, werden die durch den Virus unterbrochenen Proteste also schon bald umso heftiger zurückkehren.