Der Tourismus hat die Verbreitung des Coronavirus beschleunigt – jetzt leidet die Branche am stärksten an dessen Folgen. Wenn er nach der Zwangspause wieder hochgefahren wird, bietet sich die Chance, ihn neu aufzustellen: nachhaltig, auf lokale Beschäftigung, Kultur und Produkte ausgerichtet, umweltschonend und widerstandsfähig gegenüber künftigen Krisen.
Die Reise- und Tourismusbranche ist ein wichtiger Teil des Wirtschaftsmotors vieler Länder: In den letzten fünf Jahren schuf sie weltweit jeden vierten Job. Jeder zehnte Arbeitsplatz hängt vom Tourismus ab und über 10 Prozent des weltweiten Bruttoinlandprodukts (BIP) wird in dieser Branche erwirtschaftet. Insbesondere junge Menschen finden via Tourismus den Einstieg ins Erwerbsleben. Gemäss ILO schuf die Branche 2019 direkt und indirekt 330 Millionen Jobs.
Nun steckt der Tourismus in einer seiner tiefsten Krisen. Corona könnte zwischen 100 und 200 Millionen Jobs kosten, befürchtet der World Travel & Tourism Council (WTTC). Von der Branche hängen Hunderte verwandte Wirtschaftssektoren ab. Die Weltorganisation für Tourismus (UNWTO) rechnet für 2020 mit Einnahmeverlusten von bis zu 1,1 Billionen US-Dollar und 1,1 Milliarden weniger international Reisenden. In Asien ist von Januar bis März die Zahl der Touristinnen und Touristen um 51 Prozent gefallen. Europa zählte 44 Prozent weniger Reisende, Amerika 36 und Afrika 35 Prozent weniger.
Doch der Tourismussektor ist auch widerstands- und anpassungsfähig, andernfalls hätte er die vielen Katastrophen der letzten Jahrzehnte nicht überlebt: Tsunamis, Erdbeben und andere Naturkatastrophen, Terroranschläge oder die Finanzkrise.
Für die erste Zeit nach Corona liegen die Hoffnungen nun auf dem inländischen Tourismus. Zudem birgt die Krise auch eine Chance, Reisen neu zu denken und zu lenken – in Richtung eines nachhaltigen Tourismus, der die Umwelt schont und klimafreundlich ist. Die Zukunft muss einem Tourismus gehören, der die Gastgeberinnen und Gastgeber und ihre Kultur respektiert, stabile Jobs zu anständigen Bedingungen schafft und damit ein langfristiges Einkommen und wirtschaftliche Entwicklung ermöglicht.
Albanien: Der Massentourismus und sein Dominoeffekt
In Albanien sind 25 Prozent aller Arbeitnehmenden im Tourismus tätig; die Branche trägt 27 Prozent zum BIP bei. Schon früh hat die albanische Regierung auf die ersten Corona-Fälle reagiert: Das Land wurde abgeriegelt, die Bewegungsfreiheit eingeschränkt, Landes- und Seegrenzen wurden für den Individualverkehr geschlossen. Ein Rettungspaket soll die Wirtschaft stützen.
Im Auftrag der Deza engagiert sich Helvetas im Kampf gegen die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Albanien, indem sie jungen Menschen zu qualifizierten Arbeitsstellen verhelfen will – unter anderem im sanften Tourismus. Dieses Projekt erlaubt nun einen unerwarteten Einblick in die Krisenfestigkeit dieser Nische im weltweiten Tourismus – und verdeutlicht gleichzeitig die Schwächen des Massentourismus.
Unternehmen, die auf Massentourismus setzen, haben hohe Fixkosten und müssen ihr Jahressoll in der Hochsaison erfüllen. Der Kostendruck ist meist hoch, denn wer an organisierten Massenreisen teilnimmt, schaut erfahrungsgemäss auf den Preis. Die Jobs in den Destinationen des Massentourismus sind meist befristet und prekär. Die meisten Unternehmen sind zudem vertraglich oft an nur wenige internationale Reiseveranstalter gebunden, die die Auslastung gewähren sollen. In Albanien hat das zur Folge, dass wegen der Corona-Pandemie für 2020 bislang über fünf Millionen Übernachtungen storniert wurden.
Nachhaltiger Tourismus: Eine widerstandsfähige Nische
Im Gegensatz dazu haben Veranstalterinnen und Veranstalter für nachhaltigen Tourismus tiefere Fixkosten und einen vielfältigeren Kundenstamm. Kundinnen und Kunden, die nachhaltig reisen wollen, legen zudem mehr Wert auf die Qualität des Erlebnisses als auf einen tiefen Preis. Sie reisen nicht nur in der Hauptsaison, sondern auch im Frühling und im Herbst. Laut Elton Çaushi, einem der Gründer von Albanian Trip, verschoben viele seiner Kunden und Kundinnen ihre für 2020 geplante Reise, statt sie abzusagen. «Alle unsere Schweizer Kunden, die für das Frühjahr abgesagt haben, haben ein offenes Fenster für die Touren im September und Oktober offengelassen.»
Zudem pflegen die Veranstalter nachhaltiger Reisen mit ihren verschiedenen Zulieferern und Partnern in der Regel langfristige Geschäftsbeziehungen. Die meisten Partner von Elton Çaushi sind kleine Familienbetriebe auf dem Land. «Sie betreiben immer auch noch Landwirtschaft und haben andere Einkommensquellen. Sie werden diese Krise überleben.» Diese lokale, langfristige Zusammenarbeit garantiert weiter, dass die Gewinne im Land bleiben, statt ins Ausland zu fliessen. Albanian Trip nutzt die entstandene Zwangspause auch, um Neuerungen zu testen: etwa neue Touren, bessere Abläufe und Logistik oder ein noch besseres Abfallmanagement.
Das heisst aber nicht, dass kleine Reiseanbieter keine Schwierigkeiten haben. Im bergigen Norden Vietnams, wo Mitglieder ethnischer Minderheiten internationale Reisende bei sich zu Hause beherbergen und ihnen Einblick in die lokale Kultur geben, brachen 80 Prozent des Einkommens weg. Die Sorgen vor Ort sind gross. Wer versucht, inländische Gäste anzuwerben, konkurrenziert mit komfortablen Resorts am Strand. Kleinen Anbietern fehlt es an Ressourcen und Reserven. Und doch liegt im Inlandtourismus die Chance, mindestes einen Teil der Verluste aufgrund von Corona wett zu machen und die inländische Wirtschaft wieder anzukurbeln, denn so bleibt die Wertschöpfung im Land.
Zeit für eine sorgfältige Erholung
Doch wie sieht der Neubeginn nach der Krise aus? Werden die Reisewilligen vermeintlich Verpasstes nachholen wollen? Oder haben sie aus der Krise gelernt und schätzen künftig das Lokale, Langsame, Behutsame?
Gemäss der entwicklungspolitischen Fachstelle «Arbeitskreis Tourismus & Entwicklung» (akte), zeigt die Krise tatsächlich, wo es künftig langgehen könnte: So bringe etwa das Buchen im Reisebüro mehr Sicherheit und bessere Begleitung als die Schnäppchenjagd auf anonymen Online-Plattformen. Statt zurück zu «Business as usual» müsse der wirtschaftliche Druck auf Unternehmen und Angestellte gelöst werden, zum Beispiel mit einem bedingungslosen Grundeinkommen, finanziert durch eine Digitalsteuer – auch auf Buchungsplattformen –, einer Finanztransaktionssteuer oder einer globale Kurtaxe. «Das verschafft Luft für eine neue Ausrichtung dieses Wirtschaftszweigs, der nur über einen grundlegen Wandel zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen kann», schreibt fairunterwegs, das unabhängige, nicht gewinnorientierte Reiseportal von akte.
Nachhaltig hiesse, die Pariser Klimaziele, die Agenda 2030 und die Menschenrechte respektieren. Das widerspricht jedoch der aktuellen Politik vieler Länder, Airlines mit Milliarden zu stützen ohne «nachhaltigen Recovery-Plan». Fairunterwegs schlägt vor, dass Fluggesellschaften und Flughäfen künftig auf Klimaschutz, Energieeffizienz, Abfallminimierung, Biodiversität, umweltschonende Mobilität, faire Arbeitsbedingungen, regionale Kreisläufe und Chancengleichheit achten müssen. «Sie müssen endlich externe Kosten insbesondere für ihren Treibhausgasausstoss internalisieren und reale Preise inkl. CO2-Abgabe erheben.»