Gesellschaftlicher Fortschritt zum Wohle aller ist eine zentrale Voraussetzung, um die Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDG) der UNO-Agenda 2030 erreichen zu können. Doch wenn es so weitergeht wie bis anhin, werden die SDG nicht 2030, sondern erst ein halbes Jahrhundert später erfüllt werden. Und die Corona-Pandemie könnte dies um weitere zehn Jahre verzögern. Dies zeigt der «Social Progress Report 2020».
Fortschritt misst sich nicht am wirtschaftlichen Wachstum und damit auch nicht am Bruttoinlandprodukt, sondern am Wohlbefinden einer Gesellschaft: Ein selbstbestimmtes Leben in Frieden, Freiheit und Sicherheit und ohne materielle Not – und dabei «niemanden zurücklassen», wie es die Agenda 2030 verspricht.
Dimensionen des gesellschaftlichen Fortschritts
Seit 2014 bilanziert der Think Tank Social Progress Imperative jährlich die weltweite Entwicklung des gesellschaftlichen Fortschritts. Gemeint ist die Fähigkeit einer Gesellschaft, die «menschlichen Grundbedürfnisse» ihrer Mitglieder zu befriedigen, die «Grundlagen des Wohlbefindens» zu schaffen, die es den Menschen und Gemeinschaften ermöglichen, ihre Lebensqualität aufrecht zu erhalten und zu verbessern, sowie «Chancen und Möglichkeiten» zu gewähren, damit alle Individuen ihr volles Potenzial erreichen können.
Wie viele andere auch, veröffentlicht die Organisation ihre Erkenntnisse in Form eines Index’, des Social Progress Index’. Unabhängig davon, ob dabei das Ranking der einzelnen Staaten interessiert oder nicht, sind die Ergebnisse hinsichtlich einer selbstbestimmten und nachhaltigen Entwicklung höchst aufschlussreich. Denn der Index analysiert den weltweiten Fortschritt anhand von zwölf Indikatoren, gruppiert in den drei oben genannten Dimensionen. Hätte es 2014 die Agenda 2030 schon gegeben, man könnte meinen, der Index sei davon inspiriert worden, decken die Indikatoren doch alle 17 SDG ab:
- Bei den Grundbedürfnissen untersucht der Index insbesondere die Ernährung, die medizinische Grundversorgung, den Zugang zu Wasser und sanitären Einrichtungen, den Wohnraum, die Versorgung mit Energie sowie die persönliche Sicherheit (SDG 2-3, 6-7, 11-12, 16).
- Als Grundlagen des Wohlbefindens gelten Schulschulbildung, der Zugang zu Informationen und Kommunikationsmitteln, eine gute Gesundheit sowie eine nachhaltige Umwelt (SDG 3-4, 9, 12-17).
- Entscheidend für gesellschaftlichen Fortschritt ist schliesslich drittens, ob allen Menschen Chancen und Möglichkeiten offenstehen. Dazu gehören persönliche und politische Rechte, Freiheit, gesellschaftliche Toleranz und Inklusion sowie Zugang zur Berufsbildung (SDG 1, 3-5, 8-11, 16).
Wenig Hoffnung auf Fortschritt
Der Social Progress Index 2020 bewertet 163 Länder, für die ausreichend Daten vorliegen, um alle zwölf Komponenten zu bewerten. Die Länder sind in sechs Stufen vom höchsten bis zum niedrigsten Wert eingeteilt. Dabei enthält die länderspezifische Klassifizierung keine Überraschungen. Zur höchsten Stufe gehören 13 Länder, angeführt von Norwegen, Dänemark und Finnland. Die Schweiz liegt auf Rang sechs. Die tiefste Stufe umfasst 26 Länder, davon 21 aus Subsahara-Afrika. Abgeschlagen auf den letzten drei Plätzen liegen die Zentralafrikanische Republik, der Tschad und Südsudan.
Die im Bericht aufgearbeitete Entwicklung seit 2011 belegt, dass sich der gesellschaftliche Fortschritt insgesamt weltweit nur wenig verbessert hat. Die Werte sind zwar in verschiedenen afrikanischen und asiatischen Ländern angestiegen, reiche Länder hingegen haben stagniert und in drei Ländern hat sich die Situation sogar verschlechtert: in den USA (2020 auf Rang 28), in Ungarn (Rang 40) und in Brasilien (Rang 61).
Nimmt man die Welt als Ganzes und gewichtet die Ergebnisse des Social Progress Index’ nach der Bevölkerungszahl, die Welt würde zwischen Ghana und Aserbaidschan auf Rang 104 liegen. Am besten schneidet sie bei der Ernährung und medizinischen Grundversorgung sowie beim Zugang zur Grundschulbildung ab. Am grössten sind die Defizite bei den persönlichen und politischen Rechten und der Sicherheit sowie insbesondere bei der gesellschaftlichen Toleranz und Inklusion und bei der Qualität der Umwelt.
Das Fazit des Berichts ist denn auch ernüchternd: «Die Welt wird, wenn sich die aktuellen Trends fortsetzen, die SDG nicht vor 2082 erreichen – und damit das 2030er Ziel um mehr als ein halbes Jahrhundert verfehlen. Und wenn keine dringenden Massnahmen ergriffen werden, besteht die Gefahr, dass die Corona-Pandemie und die damit einhergehende Wirtschaftskrise den sozialen Fortschritt in der Welt um ein weiteres Jahrzehnt zurückwerfen und die Erreichung der SDG bis 2092 hinausschieben werden.»
Diese Prognose ist noch düsterer als jene der UNO in ihrem aktuellen Bericht zum Stand der Zielerreichung der SDG. Doch auch dieser zeigt auf, dass schon vor der Corona-Pandemie «die Fortschritte ungleichmässig waren und wir nicht auf dem richtigen Weg waren, die Ziele bis 2030 zu erreichen», hält UN-Generalsekretär Antonio Guterres im Vorwort fest: ««Die SDG verlangen nichts Geringeres als eine Transformation der heutigen finanziellen, wirtschaftlichen und politischen Systeme, um die Menschenrechte aller zu garantieren. Dies erfordert einen immensen politischen Willen und ehrgeizige Massnahmen aller Beteiligten. (…) Dieser Wandel vollzieht sich noch immer nicht mit der erforderlichen Geschwindigkeit und im erforderlichen Umfang.»
Menschen suchen Wohlbefinden, nicht Wirtschaftswachstum
Dabei hat eine im Auftrag des Social Progress Imperative durchgeführte Ipsos-Umfrage im Sommer 2020 gezeigt, dass für eine Mehrheit der Befragten gesellschaftlicher Fortschritt – und nicht wirtschaftliches Wachstum – auch nach Ende der Coronakrise im Vordergrund stehen sollte. Befragt wurden 10'000 Personen in 13 von der Corona-Pandemie besonders stark betroffenen Schwellen- und Industrieländern. Sieben von zehn Befragten räumen der Gesundheit und dem Wohlbefinden Vorrang vor dem Bruttoinlandprodukt ein, und mehr als die Hälfte möchte, dass dies auch nach Ende der Pandemie so bleibt.
Obwohl junge Menschen von den gesundheitlichen Folgen der Pandemie am wenigsten, von den wirtschaftlichen aber besonders betroffen sind, wünschten sich zwei Drittel der unter 24-Jährigen, dass sich ihr Land auf die Verbesserung der sozialen Situation konzentriert, verglichen mit nur 40 Prozent der besonders gefährdeten über 50-Jährigen. Dies könnte als Hinweis darauf verstanden werden, dass die in der Agenda 2030 entworfene «Transformation unserer Welt» für die junge Generation langsam, aber sicher zum Massstab von Entwicklung und Fortschritt wird – ein Umstand, dem auch die Schweiz mit ihrer künftigen Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030 (SNE 2030) Rechnung tragen könnte. Der aktuelle Entwurf des Bundesrats lässt daran aber Zweifel aufkommen. Oder wie die Plattform Agenda 2030 kritisch anmerkt: «Der Berg hat eine Maus geboren» und der Bundesrat habe eine Chance verpasst, «mit der SNE 2030 eine zukunftsgerichtete, ambitionierte Strategie zu formulieren, die tatsächlich als Umsetzungsinstrument der Agenda 2030 taugen könnte».