Ende 2020 sprach sich das Schweizer Stimmvolk mehrheitlich für die «Konzernverantwortungsinitiative» aus. Nur knapp scheiterte die Initiative am Ständemehr. Während dem Abstimmungskampf versicherte der Bundesrat, die Schweiz werde sich an der EU orientieren und entsprechend handeln. Nun macht die EU vorwärts und lanciert in Sachen Konzernverantwortung einen ambitionierten Vorschlag, der in allen Punkten über die aktuellen Schweizer Bestimmungen hinaus geht. Der Druck auf die Schweiz, mit der EU mitzuziehen, steigt.
13. Juni 2012: Auf dem Berner Bundesplatz versammeln sich Vertreterinnen und Vertreter zahlreicher Schweizer Nichtregierungsorganisationen (NGO), um die Petition «Recht ohne Grenzen» einzureichen. Ihr Anliegen: Ein wirksames Schweizer Gesetz für mehr Konzernverantwortung. Dafür übergeben sie der Bundeskanzlei 135'285 Unterschriften, fein säuberlich in Kisten verpackt.
Zehn Jahre später – 20. August 2022: Auf dem Berner Bundesplatz versammeln sich Vertreterinnen und Vertreter zahlreicher Schweizer NGO, um die Petition «Versprechen halten» zu lancieren. Ihr Anliegen: Ein wirksames Schweizer Gesetz für mehr Konzernverantwortung. Dafür wollen sie innerhalb von drei Monaten 100’000 Unterschriften sammeln.
Es ist das x-te Kapitel einer bereits weit fortgeschrittenen Schweizer Polit-Geschichte. Es ist vielleicht das entscheidende Kapitel. Denn seit jenem regnerischen Tag im Juni 2012 wurde schweizweit so viel über das Geschäftsgebaren global tätiger Konzerne debattiert, dass sich die öffentliche Wahrnehmung spürbar verändert und die Bevölkerung eine kritische Haltung entwickelt hat. Das zeigte sich spätestens im November 2020, als sich eine Mehrheit der Stimmberechtigten für die «Konzernverantwortungsinitiative» aussprach.
Auch wenn das Volksbegehren knapp am Ständemehr scheiterte: Die Tatsache, dass eine wirtschaftspolitische Vorlage trotz Widerstand aus Wirtschaftskreisen eine Mehrheit an der Urne erzielt, deutet darauf hin, dass sich die politischen Kräfteverhältnisse im Land verschoben haben. Und weil sich in der EU im selben Zeitraum ebenfalls viel bewegt hat, stehen die NGO nun zwar wieder auf dem Bundesplatz – aber eben doch ganz woanders als noch vor zehn Jahren.
Was bisher geschah
Weil die Petition «Recht ohne Grenzen» von Bundesrat und Parlament nur lauwarm aufgenommen wurde und schliesslich in einer Reihe neuer Berichte zu versanden drohte, lancierten die beteiligten Organisationen im Frühling 2014 die Volksinitiative «Für verantwortungsvolle Unternehmen – zum Schutz von Mensch und Umwelt», später bekannt als Konzernverantwortungsinitiative oder KVI. Die Verantwortlichen entwickelten eine der professionellsten Politkampagnen, die die Schweiz je gesehen hatte und es entstand eine eigentliche Bewegung mit rund 450 Lokalkomitees, 10'000 Freiwilligen und 80'000 orangen Fahnen, die landauf, landab für das Anliegen warben – und vielerorts immer noch werben.
Das Engagement entfaltete Wirkung: Eine Mehrheit des Parlaments anerkannte nun plötzlich die Wichtigkeit des Themas und liess sich auf eine substanzielle Diskussion ein. Doch kurz bevor sich National- und Ständerat auf einen guteidgenössischen Kompromiss in Form eines direkten Gegenentwurfs einigen konnten und ein Rückzug der Initiative in greifbare Nähe rückte, intervenierte der Bundesrat: In letzter Minute fand er eine Mehrheit für einen indirekten Gegenvorschlag aus dem Justizministerium von Bundesrätin Karin Keller-Sutter. Dieser war aber derart abgeschwächt und so weit von den Anliegen der Initiative entfernt, dass ein Rückzug nicht mehr in Frage kam und der Urnengang unausweichlich wurde.
Grosse Versprechen, leere Worthülsen
Um diesen zu gewinnen, stellte der Bundesrat die KVI als gefährlichen Alleingang dar, der die Schweiz unnötig exponiere und dem Wirtschaftsstandort schade. Stattdessen brauche es ein «international abgestimmtes Vorgehen», das «sich an den Berichterstattungs- und Sorgfaltspflichten der EU orientiert», gab Justizministerin Karin Keller-Sutter drei Wochen vor der Abstimmung der NZZ zu Protokoll. Dieses Versprechen wiederholte sie auch am Fernsehen unzählige Male, und betonte, wie wichtig die Abstimmung mit den Nachbarländern sei: «Der Bundesrat wird die Entwicklungen im Ausland beobachten», versprach sie in der Aargauer Zeitung.
Der Rest der Geschichte ist bekannt: Die KVI erhielt zwar 50,7% aller Stimmen, scheiterte aber am Ständemehr. Damit kam automatisch der indirekte Gegenvorschlag zum Zug, der in den darauffolgenden Monaten abermals abgeschwächt wurde. Trotz zahlreicher kritischer Rückmeldungen während der Vernehmlassung zur Ausführungsverordnung führte der Bundesrat weitere Ausnahmen und Vorbehalte ein (Alliance Sud; ref.ch). Die neuen Regeln – im Obligationenrecht und in der neuen Verordnung über Sorgfaltspflichten und Transparenz bezüglich Mineralien und Metallen aus Konfliktgebieten und Kinderarbeit (VSoTr) festgehalten – traten schliesslich am 1. Januar 2022 in Kraft: Ein zahnloser Papiertiger, der die Grosskonzerne kaum beeindruckt, mit vielen Ausnahmen, wenigen Sorgfaltspflichten und keinen neuen Haftungsregeln.
Die EU macht vorwärts, die Schweiz tritt an Ort
Damit schien das Thema fürs erste erledigt: Der Bundesrat gab sich damit zufrieden, zumindest den Anschein zu erwecken, der Schweiz sei es ernst mit Konzernverantwortung. Gleichzeitig vertraute er darauf, dass auch die Mühlen der EU nur langsam mahlen: «Die Vorschläge in der EU sind noch sehr weit weg von einer Umsetzung», beruhigte Justizministerin Keller-Sutter 2020 in der NZZ. Wider Erwarten drückte die EU jedoch aufs Tempo: Anfang 2022 stellte EU-Justizkommissar Didier Reynders den Entwurf der neuen EU-Richtlinie vor – und lässt die Schweiz damit alt aussehen.
Angesichts der dynamischen Entwicklung in verschiedenen EU-Mitgliedsländern sieht die Europäische Kommission die Zeit für eine einheitliche Regelung in Sachen Konzernverantwortung gekommen. Und Reynders gibt sich nicht mit Kulissenschieberei zufrieden, sondern stellt gleich einen Vorschlag in den Raum, der auf drei Ebenen Nägel mit Köpfen macht:
- Eine Sorgfaltsprüfungspflicht für Unternehmen im Bereich Menschenrechte und Umweltstandards.
- Eine Haftungsklausel auch für Tochterfirmen im Ausland sowie für Zulieferer.
- Eine staatliche Aufsichtsbehörde mit der Kompetenz, Sanktionen gegen fehlbare Unternehmen zu erlassen.
Damit geht der EU-Vorschlag in allen Punkten deutlich über die aktuellen Schweizer Bestimmungen hinaus, die bloss eine Sorgfaltsprüfungspflicht im Bereich von Kinderarbeit und Konfliktmineralien vorschreiben und selbst da noch zahlreiche Ausnahmen gewähren. Der EU-Vorschlag übertrifft in gewissen Punkten selbst die Forderungen der KVI. So sollen Konzerne nicht nur für Tochterfirmen im Ausland, sondern auch für Zulieferer haften, wenn diesen Verfehlungen gegen Menschrechte und Umweltstandards nachgewiesen werden können. Zudem schlägt die EU eine staatliche Aufsichtsbehörde mit Sanktionskompetenz vor: Ein wirksames Mittel, welches – unter anderem aus Kostengründen – aber nie Teil der KVI war.
Der Druck steigt
Früher als erwartet wird die Öffentlichkeit damit wieder an das bundesrätliche Versprechen bezüglich internationaler Abstimmung erinnert – allerdings unter verkehrten Vorzeichen: Warnte der Bundesrat Ende 2020 noch vor einem Vorpreschen gegenüber der EU, droht die Schweiz nun schon bald abgehängt zu werden. Bereits Anfang 2024 soll die Richtlinie auf EU-Ebene verabschiedet werden, danach bleiben den Mitgliedsstaaten zwei weitere Jahre für die Umsetzung. Will die Schweiz 2026 also nicht allein auf weiter Flur stehen und die bereits arg belasteten Beziehungen zur EU um ein weiteres Konflikt-Dossier verkomplizieren, gilt es jetzt zu handeln. Der Bundesrat hat Ende Februar daher getan, was er in einer solchen Situation immer tut: Er hat auf Ende Jahr einen Bericht in Aussicht gestellt. Dringlichkeit sieht anders aus.
Genau darum stehen Schweizer NGO nun wieder auf dem Bundesplatz und sammeln Unterschriften. Mit der Petition wollen sie der Politik nicht nur das historische Volksmehr vom November 2020 in Erinnerung rufen, sondern den Bundesrat auch an die gemachten Versprechen erinnern.
Interview mit Rupa Mukerji zum zweiten Teil des sechsten Sachstandsberichts des Weltklimarats.