Regierungen versuchen, die durch den Corona-Lockdown verursachten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Schäden mit grossen Rettungspaketen abzufedern. Doch drohen einige Grosse und Privilegierte davon zu profitieren, während viele andere zurückbleiben. Rettungsmassnahmen müssen zwingend zur Entwicklung einer nachhaltigen und inklusiven Wirtschaft für alle beitragen. Dazu gehören menschenwürdige Arbeit, Klimaneutralität und ein gerechtes Steuersystem.
Die Folgen der Corona-Pandemie sind für die Gesellschaft und Wirtschaft aller betroffenen Länder eine grosse Belastung. Sie bietet aber auch die Gelegenheit, innezuhalten und bisherige Gegebenheiten und Gewohnheiten kritisch zu hinterfragen – zum Beispiel die «selbstverständliche» Nachfrage nach, Zugänglichkeit zu und Konsum von Gütern und Dienstleistungen. Oder das politische Zusammenspiel von Regierung, Parlament, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Oder die Schwächen und Defizite nationaler Institutionen und internationaler Systeme.
Corona hat Volkswirtschaften mit begrenzten Bewältigungskapazitäten und speziell Menschen in Armut hart getroffen. Sinkende Exporte, steigende Kreditkosten – den bereits verschuldeten Entwicklungsländern droht eine neue Schuldenkrise. Leidtragend sind auch Working Poor Familien in Industrie- und Entwicklungsländern. Sie sitzen in Niedriglohnjobs mit schlechten Sozialleistungen, wenig Aufstiegschancen und wirtschaftlicher Unsicherheit fest oder sind in Sektoren selbständig, die von der Pandemie stark betroffen sind. Corona ist gar lebensbedrohend für jene, die im informellen Sektor arbeiten oder an vorderster Front tätig sind; für jene, die in überfüllten Häusern oder Flüchtlingslagern leben; für jene, die unterernährt sind, die gesundheitliche Probleme oder eine Behinderung, aber keine Versicherung haben.
Kein Trickle-Down-Effekt für Pandemie-Geschädigte
Einige Teile der Gesellschaft und verschiedene Wirtschaftsbranchen werden von den Rettungspaketen profitieren, die Mehrheit dürfte zurückbleiben. Diese Menschen werden die Bedeutung des Wirtschaftswachstums zunehmend in Frage stellen, wenn Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert, wenn wenige reicher werden, während viele ärmer werden und immer härter arbeiten müssen, nur um ihren Lebensstandard zu halten. Business as usual nach der Pandemie ist keine Option.
Die Folgen der Coronakrise haben dem «Trickle-down»-Mythos, wonach Wirtschaftswachstum und Wohlstand der Reichen nach und nach durch deren Konsum und Investitionen zu den armen Gruppen der Gesellschaft durchsickern würden, definitiv ein Ende bereitet. Schon vorher gingen weltweit mehrheitlich junge Menschen auf die Strasse, um gegen diese ungleiche Verteilung des Wohlstands zu protestieren. Sollten die Corona-Rettungsbemühungen weiterhin nur die schon Wohlhabenden und Aktionäre belohnen und somit die wirtschaftlichen Ungleichheiten verstärken, kann dies zu gesellschaftlicher Zersplitterung, verstärkter Migration bis hin zu einer neuen, gefährlichen Populismus-Welle führen.
Rettungspakete an Bedingungen knüpfen
Der «grosse Lockdown» hat viele Länder in eine Rezession gestürzt, tiefgreifender noch als während und nach der Finanzkrise von 2008. Obwohl aber die damalige Finanzkrise und die aktuelle Corona-Pandemie grosse Unterschiede aufweisen, ist die Art und Weise, wie die Rettungsaktionen geplant und umgesetzt werden, vergleichbar. Regierungen haben im Umgang mit der Coronakrise ähnliche wirtschaftliche Rettungspakete – auch als «fiskalische Anreize» bekannt – geschnürt wie damals, um Unternehmen über Wasser zu halten und Menschen zu unterstützen. Allerdings wurden damals die anfänglichen Massnahmen zur Konjunkturstabilisierung bald von einer drastischen Austeritätspolitik abgelöst, während dies derzeit nicht zu beobachten ist.
Unbestritten ist, dass die durch die Pandemie verursachten wirtschaftlichen Schäden mit geld- und fiskalpolitischen Massnahmen möglichst rasch minimiert werden müssen. Allerdings ist eine Überschwemmung der Volkswirtschaften mit Rettungsaktionen, die nicht an Bedingungen geknüpft sind – also quasi als «Blankochecks» –, in ihrer Wirksamkeit fragwürdig. Sie müssen dazu beitragen, die Grundlagen für eine nachhaltige und integrative Erholung und langfristige Entwicklung zu schaffen.
Drei Eckpfeiler einer nachhaltigen Wirtschaft nach Corona
Gesellschaften werden eine «neue Normalität» des Zusammenlebens mit dem Erreger akzeptieren müssen. Ausmass und Geschwindigkeit der Erholung und Anpassung werden davon abhängen, wie die unmittelbaren wirtschaftlichen Massnahmen ausgestaltet und ob sie kontinuierlich dem Corona-Zyklus angepasst werden. Der Erholungsprozess muss dazu genutzt werden, um ein inklusives und nachhaltiges Wirtschaftssystem auf- und auszubauen. Ein gemeinsamer Wohlstand nach Corona ist realisierbar. Die Agenda 2030 mit ihren Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) weist den Weg. Dabei sind drei Schlüsselelemente zu berücksichtigen.
- Eine rasche Wiederbeschäftigung unter menschenwürdigen Arbeitsbedingungen. Dazu zählen gemäss der Decent Work Agenda der IAO insbesondere eine vertragliche Regelung des Arbeitsverhältnisses, ein angemessenes Einkommen, Sicherheit am Arbeitsplatz und den sozialen Schutz für Familien. Decent Work steht für Integrität, Chancengerechtigkeit, die Gleichbehandlung von Frauen und Männern und Aussichten auf eine persönliche Entwicklung. Investitionen in bessere Arbeitsbedingungen zahlen sich für Unternehmen in verschiedener Hinsicht aus: Sie fördern Produktivität und Effizienz und tragen zu verstärkter unternehmerischer Resilienz, Teamzusammenhalt oder Innovationskraft bei.
- Investitionen in eine klimaneutrale und umweltfreundliche Wirtschaft und Schutz der Biodiversität. Denn wenn veraltete, umweltverschmutzende Industrien und Praktiken wiederbelebt werden, um schnell wieder Arbeitsplätze zu schaffen und die Produktion zu steigern, ist das kurzsichtig. Sie schaden dem Klima und gefährden die Arbeitsplätze abermals. Die Rettungsmassnahmen müssen den Weg für eine klimaresistente gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung ebnen.
- Die Ausrichtung auf ein faires und transparentes Steuersystem, das Regierungen ermöglicht, in eine nachhaltige Zukunft zu investieren. Die Rettungsaktionen bieten Gelegenheit, gegen Steuerhinterziehungspraktiken vorzugehen. Beispielsweise haben Polen und Dänemark beschlossen, Unternehmen, die in Offshore-Häfen registriert sind, keine finanzielle Hilfe zukommen zu lassen. In Dänemark dürfen Unternehmen, die Coronahilfe beanspruchen, keine Dividenden ausschütten und ihren Sitz nicht in Steueroasen verlegen. Indem die Unterstützung eines Unternehmens von dessen ordnungsgemässen Geschäftspraxis abhängig gemacht wird, können ethisches Verhalten belohnt und Bemühungen um eine nachhaltige Post-Corona-Erholung unterstützt werden.
In welcher Form sich das globale Wirtschaftssystem erholen und weiter entwickeln wird, darüber besteht heute eine grosse Unsicherheit. Das gemeinsame Ziel von Regierungen, Privatsektor und Organisationen der Zivilgesellschaft muss sein, dass «niemand zurückgelassen wird», wie dies die Agenda 2030 beansprucht. Es liegt im Interesse aller, dass die Entwicklungsländer beim Aufbau eines widerstandsfähigen und inklusiven Wirtschaftssystems nach Corona unterstützt werden. Denn «Armut, wo immer sie besteht, gefährdet den Wohlstand aller». Diesem nach wie vor aktuellen Grundsatz aus der Verfassung der Internationalen Arbeitsorganisation vom 10. Mai 1944 ist nichts hinzuzufügen.