Im nächsten Jahr steigt der humanitäre Bedarf erneut an. Hilfsappelle der UNO bleiben unterfinanziert – mit verheerenden Folgen für die betroffenen Menschen. Die Humanitäre Hilfe muss gestärkt werden. Aber keinesfalls zu Lasten der Entwicklungszusammenarbeit. Denn es braucht beides: Hilfe zur Linderung von akuter Not ebenso wie präventiv und nachhaltig wirkende Entwicklungszusammenarbeit zur Armutsbekämpfung und zur Stärkung der Widerstandskraft der Menschen.
Am 1. Dezember veröffentlichte das UNO-Büro für die Koordination der humanitären Hilfe (OCHA) den jährlichen «Global Humanitarian Overview 2023». Der Bericht liefert die jährliche Einschätzung über den weltweiten humanitären Bedarf und die erforderlichen Mittel der humanitären Hilfe. Eine bedrückende Lektüre.
Wegen der Kriege in der Ukraine und anderswo, weitverbreiteten Dürren und Überschwemmungen und dem globalen Wirtschaftseinbruch sehe sich die Weltgemeinschaft mit der grössten, globalen Ernährungskrise konfrontiert, heisst es darin. Hunderte von Millionen Menschen haben immer weniger zu essen. Bis Ende 2022 seien mindestens 222 Millionen Menschen in 53 Ländern von akuter Ernährungsunsicherheit bedroht und benötigten dringend Hilfe. Für 45 Millionen Menschen in 37 Ländern bestehe die reale Gefahr des Verhungerns.
Die Zahl der Menschen, die aufgrund von Konflikten, Verfolgung und Katastrophen fliehen müssen, war noch nie so hoch wie heute: Mehr als 100 Millionen Menschen sind vertrieben; vor sechs Jahren lag die Zahl noch bei 65 Millionen. 58 Millionen Menschen sind Binnenvertriebene im eigenen Land; hinzu kommen 33 Millionen Flüchtlinge, knapp 5 Millionen Asylsuchende und weitere schutzbedürftige Menschen. Drei von vier Menschen, die ihr Land verlassen müssen, suchen in einem benachbarten Land Schutz. Zwei Drittel der Geflüchteten und Asylsuchenden weltweit kommen laut OCHA aus Ländern, in denen eine Ernährungskrise herrscht.
Eine weitere Herausforderung ist die öffentliche Gesundheit: Die Corona-Pandemie, Ausbrüche von Affenpocken, steigende Ebola-Fälle und Cholera-Ausbrüche zeigen gemäss OCHA, dass die Gesundheitsversorgung vielerorts ungenügend ist. In den ärmsten Ländern seien viel zu wenige Corona-Impfungen angekommen. Gleichzeitig sei die Durchimpfungsrate gegen übliche Krankheiten bei Säuglingen so stark gesunken wie seit 30 Jahren nicht mehr. Ebenso zurückgegangen seien Test-, Behandlungs- und Präventionsmassnahmen für Infektionskrankheiten und HIV.
Steigender Bedarf, steigende Finanzierungslücke
Laut OCHA wird 2023 eine Rekordzahl von 339 Millionen Menschen humanitäre Hilfe und Schutz benötigen – ein deutlicher Anstieg gegenüber 2022 als anfangs Jahr 274 Millionen Menschen auf Nothilfe angewiesen waren. Die UNO und ihre Partnerorganisationen wollen 230 Millionen Menschen in Not in 68 Ländern helfen, wofür 51,5 Milliarden US-Dollar benötigt werden – ein Anstieg um 25 Prozent gegenüber 2022, auch weil Rohstoffpreise gestiegen sind und die Teuerung hoch ist. Allein die monatlichen Kosten des Welternährungsprogramms WFP für die Beschaffung von Nahrungsmitteln liegen heute um 44 Prozent höher als vor der Pandemie und dem Ukrainekrieg – und zwingen das Programm dazu, Essensrationen zu kürzen.
Bislang ist für 2023 weniger als die Hälfte des erbetenen Betrags zusammengekommen; es fehlen beinahe 30 Milliarden US-Dollar. Nie sei die Lücke zwischen Bedarf und den zur Verfügung stehenden Mitteln, der sogenannte «Funding Gap», grösser gewesen, heisst es im OCHA-Bericht weiter. Während der humanitäre Bedarf der Ukraine zu zwei Dritteln finanziert sei, habe die Unterfinanzierung der Hilfsappelle der UNO in Ländern wie Burkina Faso (35%), der Demokratischen Republik Kongo (46%), Mali (34%) oder Myanmar (32%) ein besorgniserregendes Niveau erreicht. Laut Martin Griffiths, OCHA-Nothilfekoordinator und damit oberster humanitärer Helfer der Welt, werden derzeit weltweit über 100 Millionen Menschen, die Hilfe bräuchten, nicht erreicht.
Humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit bedingen sich gegenseitig
Unter dem Titel «Nun ist weitsichtige Grosszügigkeit gefragt» erschien in der NZZ vor einer Woche ein Kommentar zum steigenden weltweiten humanitären Bedarf. Laut dem Autor sei humanitäre Nothilfe – also Geld, das direkt dorthin fliesst, wo Menschen wegen Katastrophen und Konflikten um ihr Überleben fürchten müssen – zwar «kein Allheilmittel, aber dennoch immens wichtig». Treffend ist seine Analyse, dass neben der Ukraine all die anderen Krisen der Welt nicht vergessen gehen dürfen. Und, dass mit humanitärer Hilfe «nicht nur Mitgefühl und Menschlichkeit demonstriert» wird, sondern es sich auch um «Investitionen in die Sicherheit, die Stabilität und den Wohlstand» in reichen Ländern wie der Schweiz handle. Dass sich der Autor für eine «Aufstockung der humanitären Gelder» ausspricht, ist daher konsequent und richtig.
Nicht zu Ende gedacht und gefährlich ist hingegen sein Vorschlag, finanzielle Mittel aus Entwicklungsprojekten für die Nothilfe zur Verfügung zu stellen. Zum einen nimmt der Bedarf an Entwicklungszusammenarbeit ebenfalls zu, nicht ab. Aus gutem Grund bekräftigt die internationale Staatengemeinschaft immer wieder das internationale 0,7 Prozent-Ziel für die öffentliche Entwicklungshilfe (APD), zuletzt im Rahmen der UNO-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. Während Nothilfe auf akute Krisenherde reagiert, ist es die Entwicklungszusammenarbeit, die dazu beiträgt, dass sich die Lebensbedingungen in armen und fragilen Ländern auf lange Sicht verbessern. Anders als die Nothilfe geht Entwicklungszusammenarbeit die Ursachen von Armut und Hunger, von politischer Instabilität und Gewalt, von Ungerechtigkeit und Vertreibung an. Im Zentrum ihrer Bemühungen stehen beispielsweise der Zugang zu gesunder und erschwinglicher Ernährung sowie der Zugang zu Gesundheitsdiensten, Gleichstellung, Bildung und Chancengleichheit, die Stärkung der lokalen Wirtschaft und menschenwürdige Arbeitsbedingungen sowie die Förderung einer verantwortungsvollen Gouvernanz und von nachhaltiger, klimaverträglicher Entwicklung.
Zum anderen sind beide Instrumente in vielen Fällen eng miteinander verzahnt. Die Situation in der Sahelzone, am Horn von Afrika oder im Nahen Osten zeigt, Krisen überlagern sich und dauern viele Jahre: Klimaextreme wie Dürren und Fluten häufen sich, Ernten bleiben aus und Wasser wird knapp, Regierungen lösen sich auf, hinzu kommen gefährliche nicht-staatliche bewaffnete Gruppen; immer mehr Menschen sind auf der Flucht. Das Muster von Krieg, dann Friedensschluss, gefolgt von Wiederaufbau und Rückkehr zur Normalität scheint vorbei. Die Menschen benötigen daher nicht nur akute Nothilfe, sondern ebenso verlässliche Unterstützung und langfristige Perspektiven, um aus Krisen herauszukommen, damit sie stabile Lebensgrundlagen aufbauen können. So ist am Horn von Afrika zwar Soforthilfe mit Wasser und Nahrung dringend nötig. Nötig ist aber auch die Stärkung effizienter und transparenter staatlicher Strukturen, der Aufbau von Frühwarn- und Bewässerungssystemen mit Blick auf Dürren ebenso wie die Unterstützung lokaler Märkte und der Zugang zu Impfungen und Gesundheitszentren.
Derweil schlagen die dramatischen Zahlen der OCHA in Bundesbern keine grossen Wellen. Das Interesse an einer gemeinsamen und erfolgreichen Bewältigung humanitärer Herausforderungen auf der Welt scheint im bürgerlich dominierten Nationalrat gering. So zeigt die just zu Ende gegangene Wintersession in Bern: Nicht nur eine moderate Aufstockung der Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit in der Ukraine wurde abgelehnt. Auch zusätzliche Unterstützung für die Ernährungssicherheit in den ärmsten Ländern und für Massnahmen im Klimaschutz und der Anpassung an die negativen Klimafolgen im Globalen Süden fanden keine Mehrheit im Nationalrat.