Um den Hunger in Äthiopien bis 2030 zu überwinden und Ernährungssicherheit zu erreichen, muss die Nahrungsmittelproduktion erneuert und an lokale Gegebenheiten angepasst werden. Dies verlangt eine nachhaltige Nutzung der natürlichen Ressourcen und den Einbezug privater Initiativen. Ziel ist eine wiederbelebte und klimaschonende Landwirtschaft als Teil einer nachhaltigen ländlichen Entwicklung.
Äthiopien 1984: Hungersnot. Ein tobender Bürgerkrieg. Eine der schlimmsten humanitären Krisen des 20. Jahrhunderts. «We Are the World», das Lied zur Unterstützung der Opfer, erinnert noch heute an das unbeschreibliche Leiden der Menschen. Knapp 40 Jahre später: Vieles wurde erreicht und Äthiopien steht für zahlreiche positive Errungenschaften. Nach 1991 – dem Ende eines 30-jährigen Bürgerkriegs – verringerten ernährungssensible Sicherheitsnetze und auf die Armen ausgerichtete Wachstumsinitiativen wie das Productive Safety Net Program Hunger und Unterernährung. Der Bevölkerungsanteil, der unterernährt war, sank von 52 (1999-2001) auf 21 Prozent (2016-2018). Die Kindersterblichkeitsrate ging ebenfalls deutlich zurück, von 14 (1999-2001) auf 6 Prozent (2016-2018).
Prekäre Ernährung
Trotz dieser Verbesserungen ist der Zugang zu Nahrung für viele Menschen auch heute noch unsicher. Sie müssen Mahlzeiten auslassen oder andere Grundbedürfnisse einschränken, um Nahrung kaufen zu können. Oft fehlt es an essenziellen Nährstoffen für ein gesundes und aktives Leben. Soll «Zero Hunger» bis 2030 erreicht werden, eines der Ziele für nachhaltige Entwicklung, müssen die Triebkräfte des Hungers systematisch bekämpft werden, insbesondere Ungleichheiten, Konflikte und die Auswirkungen des Klimawandels.
Während der Hungersnot waren etwa 85 Prozent der Menschen in Äthiopien von der Landwirtschaft und der Viehzucht abhängig. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert, obwohl der Anteil der Landwirtschaft am Bruttoinlandprodukt (BIP) seit den 1980er Jahren von 60 auf 30 Prozent gesunken ist. Seit dem Jahr 2000 nahmen Produktion und Erträge von Getreide deutlich zu und Getreide macht heute drei Viertel der gesamten Anbaufläche aus.
Doch die kleinbäuerliche Landwirtschaft ist nach wie vor geprägt von wenig Neuerungen und geringem Output. Sie wird mit Regenwasser gespeist, Geräte werden von Ochsen gezogen. So ist auch die Zusammensetzung des Nahrungsmittelangebots in den letzten 40 Jahren weitgehend unverändert geblieben: Der Nahrungsmittelkorb Äthiopiens besteht aus einer Vielfalt von Getreiden und anderen Grundnahrungsmitteln, ist reich an Kohlenhydraten aber arm an Proteinen und Mikronährstoffen. Die schlechte Qualität der Ernährung führt zu gesellschaftlichen Mehrfachbelastungen: So sind 38 Prozent der Kinder unter 5 Jahren unterenterentwickelt und 24 Prozent der Frauen leiden unter Blutarmut.
Klimaschonende Landwirtschaft
Damit Äthiopien bis 2030 das Hungerniveau substanziell verringern und die Nahrungsmittelqualität steigern kann, ist es nötig, die Landwirtschaft ganzheitlich zu verändern. Dabei geht es einerseits um die Auswirkungen der Landwirtschaft auf die natürlichen Ressourcen und um die Qualität der Ernährung, andererseits aber auch um institutionelle und wirtschaftliche Aspekte der Nahrungsmittelproduktion.
Erste Voraussetzung ist eine klimaschonende Landwirtschaft (Climate-Smart Agriculture, CSA). Diese muss drei Ziele verfolgen: eine nachhaltige Steigerung von Produktivität und Einkommen, eine Anpassung an den Klimawandel und nach Möglichkeit eine Reduzierung der Treibhausgasemissionen.
Äthiopien hat eine ehrgeizige Strategie für eine klimaresistente grüne Wirtschaft (Climate Resilient Green Economy, CRGE). Diese überwindet aber nicht nicht-nachhaltige Praktiken, sondern reduziert Zielkonflikte und fördert Synergien. Dagegen ist nichts einzuwenden, solange die Massnahmen auf die lokalen Schwächen und Anfälligkeiten abgestimmt werden und die möglichen Auswirkungen einbeziehen. Zusätzlich ist es aber wichtig, bei Kleinbauernfamilien die Akzeptanz von CSA-Praktiken und -Technologien, wie eine schonende Land- und Agroforstwirtschaft, zu fördern. Dafür braucht es eine stärkere Beteiligung des Privatsektors anstelle der dominierenden öffentlichen Institutionen. So liesse sich der Zugang zu Betriebsmitteln, Ausrüstung sowie zu Kredit- und Versicherungssystemen verbessern.
Ein besonderes Problem waren früher die unsicheren Landbesitzverhältnisse, die Kleinbauernfamilien daran hinderten, in eine kluge und nachhaltige Landbewirtschaftung zu investieren. Dank der Einführung eines Programms für Landzertifikate durch die Regierung hat sich das geändert. Allerdings müssten die Zertifikate kontinuierlich aktualisiert werden. Und parallel dazu müssten die Bauern und Anbieter von Mikrokrediten für die Kosten und Nutzen von Investitionen in eine nachhaltige Landwirtschaft sensibilisiert werden, damit sich das Programm voll entfalten kann.
Wiederbelebung der Landwirtschaft
Entscheidend für den Kampf gegen Hunger ist es auch, die Landwirtschaft für die unter 30-Jährigen, die gut zwei Drittel der Bevölkerung ausmachen und zu einem grossen Teil in ländlichen Gebieten leben, wieder attraktiv zu machen. Deren Stärkung ist der Schlüssel zur Bekämpfung von Hunger und Unterernährung.
Um das «Imageproblem» der Landwirtschaft zu überwinden, braucht es innovative Lösungen, um die Jugendlichen produktiv einzubinden. Dabei genügt es nicht, einfach die zunehmenden Ungleichheiten und die Arbeitslosigkeit bekämpfen zu wollen. Vielmehr müssen junge Menschen aufgeklärt werden über die Bedeutung der Landwirtschaft als Teil eines komplexen Nahrungsmittelsystems mit einem wachsenden nicht-agrarischen Beschäftigungs- und Einkommenspotenzial. Dazu gehören produktive Fertigungs- und Dienstleistungssektoren wie Verpackung, Transport, Verarbeitung, Vermarktung und Qualitätssicherung. Gleichzeitig können die Menge und Qualität der Agrarprodukte dank technologischer Neuerungen erhöht werden. Voraussetzung dafür sind eine berufliche Bildung im Sinne von lebenslangem Lernen, die Vermittlung betriebswirtschaftlicher Kenntnisse und speziell der Zugang zu Anschubkrediten für agrarische Kleinunternehmen.
Damit diese zukunftsweisenden Ansätze für die Ernährungssicherheit und die nachhaltige Entwicklung Äthiopiens erfolgreich sind, dürfen sich die derzeitige Unsicherheit und die ethnischen Spannungen, die bereits zur Vertreibung vieler Menschen geführt haben, nicht zu einer weiteren Runde von Bürgerkriegen entwickeln. Äthiopiens Regierung, Privatsektor und Zivilgesellschaft sind gefordert zu handeln.
Zenebe B. Uraguchi arbeitet bei Helvetas als Regionaler Koordinator und Seniorberater für nachhaltige und inklusive Wirtschaftssysteme. Er wuchs im nördlichen Hochland Äthiopiens auf, einer Region, die regelmässig von anhaltenden Dürren und Hungersnöten betroffen ist. In der Vergangenheit traten Hungersnöte im Norden Äthiopiens alle sechs bis acht Jahre auf, im ganzen Land alle acht bis zehn Jahre.