Die Bilder indischer Wanderarbeiter, die sich nach Ausrufung des Lockdowns ohne Arbeit und Geld teils zu Fuss über hunderte Kilometer auf den Heimweg in ihre Dörfer machten, gingen um die Welt. Sie erzählen viel über die Folgen von Liberalisierung und Urbanisierung in Indien. Die Not der Verletzlichsten der indischen Gesellschaft ist gross. Gleichzeitig werden die Menschen, die den Wirtschaftsmotor der Metropolen am Laufen halten jetzt im Land erstmals richtig sichtbar.
Mitte April feierten viele Teile Indiens ihr neues Jahr. Da Indien eine Agrargesellschaft ist, sind die Feste eng mit dem landwirtschaftlichen Jahreslauf verbunden. Derzeit wird in weiten Teilen des Landes die Winterernte eingebracht. Doch dieses Jahr war dieses riesige Land mit 1,3 Milliarden Menschen am Neujahrtag am 14. April durch einen landesweiten Lockdown stillgelegt. Drei Wochen dauerte er, Mitte April wurde er um zwei weitere Wochen bis zum 3. Mai verlängert. In Indien geschieht, was auch anderswo in Entwicklungsländern passiert, jedoch in einer Dimension wie nirgendwo sonst.
Die Reaktion auf die Coronakrise in Indien führt uns eindrücklich die zwei Seiten von Urbanisierung und Entwicklung vor Augen: Die Verstädterung ist ein globaler Megatrend; in Indien nimmt sie seit den Neunzigerjahren stark zu. Globalisierung und Liberalisierung haben Städte wie Mumbai und Delhi zu Motoren des Wirtschaftswachstums und zu Magneten für Millionen von Arbeitsmigranten und Wanderarbeiterinnen gemacht, während gleichzeitig der Agrarsektor drastisch vernachlässigt wurde. Die Nachfrage nach gering qualifizierten Arbeitskräften im Baugewerbe, in der Lebensmittel- und Unterhaltungsindustrie, im Einzel- und im Online-Handel stieg stark an. Diese Branchen beschäftigen Millionen von Jugendlichen und Frauen, hauptsächlich in der Gig Economy, also dem Teil des Arbeitsmarktes, wo Firmen, oft Online-Plattformen, kleine kurzfristige Aufträge gegen Provision an Menschen ohne festen Job vermitteln.
Geldüberweisungen an die Familie fallen weg
53 Prozent der städtischen Arbeitnehmenden in Indien haben keine feste Stelle mit regelmässigem Einkommen. In ländlichen Gebieten ist dieser Anteil mit 83 Prozent sogar noch höher. Sie leben in überfüllten, informellen Siedlungen ohne Sicherheit, dort wohnen bleiben zu dürfen. Die meisten unterstützen die Familie zuhause und pendeln oft zwischen Stadt und Heimatdorf hin und her. Obwohl beim Thema Rücküberweisungen oft nur von den internationalen Geldsendungen die Rede ist, sind die Inlandüberweisungen von Wanderarbeitern wirtschaftlich ein entscheidender Faktor. Rücküberweisungen sind antizyklisch, das heisst, wenn die lokale Wirtschaftslage in der Heimat schwach ist, überweisen die Migrantinnen und Migranten mehr Geld, um ihrer Familie zu helfen. In der Coronakrise sind es nun aber die Arbeitsmigranten, die sich ihrerseits auf die Sicherheitsnetze ihrer Familien auf dem Land verlassen müssen.
Als der Lockdown von der Regierung angekündigt wurde, traten Millionen von städtischen Arbeiterinnen und Arbeitern sofort die Heimreise an, da ihre tägliche Lohnarbeit wegbrach. Ohne Lebensmittelvorräte oder Ersparnisse, wurden sie von ihren Vermietern aus ihren Unterkünften vertrieben. Familien riefen sie in die Heimat zurück aus Angst, dass sie sich in der weit entfernten Stadt anstecken würden, ohne dass sich jemand um sie kümmern könnte. Wir alle sahen die Bilder von Tausenden von Menschen, die mit ihrer spärlichen Habe Hunderte von Kilometern zu Fuss zurücklegten. Gleichzeitig sitzen viele andere noch immer in den Städten fest, ohne Zugang zu Transport, Einkommen oder Nahrung. Die Verlängerung der Ausgangssperre führte in vielen Städten zu Protesten.
Doch während der Lockdown der Mittelklasse ein Gefühl von Sicherheit vermittelt und die Durchsetzung des Social Distancing vereinfacht, hätte man die schwerwiegenden Folgen für die Armen nicht voraussehen müssen? Mit einer Reihe von Massnahmen versucht man ihr Leid zu lindern. Und doch haben die ärmeren Schichten die schwerere Last zu tragen.
Jetzt handeln!
Millionen droht Hunger
Viele, die es aus der Stadt zurück in die Heimatregion geschafft haben, sind nun zur Quarantäne in einem der über 27’000 Hilfslager untergebracht. Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen unterstützen diesen Exodus sehr grosszügig mit Nahrungsmitteln, Wasser und Transportmöglichkeiten. Allen voran NGOs und zivilgesellschaftliche Organisationen. So wird die lebendige Zivilgesellschaft Indiens nach Jahren der Restriktionen und Vernachlässigung heute wieder anerkannt und geschätzt für den wichtigen Beitrag, den sie leistet.
Trotz des Hilfspakets der Regierung in Höhe von 22,5 Milliarden US-Dollar, das hauptsächlich den Armen zugutekommen soll, droht Millionen Menschen aufgrund der Ausgangssperre Hunger. Indien hat zwar genug Vorräte, aber sie erreichen die Ärmsten im Moment wegen des Lockdowns nicht. Sie finden kein Einkommen, die landwirtschaftlichen Produktion liegt brach, die Märkte sind geschlossen, die Händler sind nicht in der Lage, Kredite zu vergeben – Wut und Diskriminierung breiten sich aus. Allein in Mumbai gab es fast 100’000 Anrufe bei Beratungsstellen für Kinderbetreuung – über Gewalt gegen Frauen wird weniger berichtet, aber sie hat mit Sicherheit zugenommen.
Stimmen werden laut, das Hilfspaket, das 0,8 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) ausmacht, auf mindestens 10 Prozent des BIP zu erhöhen, wie es die USA tut. Weltweit wägen Länder ab und suchen einen Kompromiss, um die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen eines Lockdowns in Grenzen zu halten und gleichzeitig Leben zu retten. Indien mit seiner Milliarden-Bevölkerung und seiner begrenzten Gesundheitsinfrastruktur hat Letzterem den Vorrang gegeben – es dabei allerdings verpasst, die besonders Benachteiligten vorausschauend besser zu schützen.
Werden die Arbeiterinnen und Arbeiter nach der Krise wieder in die Städte zurückkehren und wie werden sie dort dann behandelt? Der Internationale Währungsfonds schätzt, dass Indien und China aufgrund ihrer Grösse und Vielfalt die einzigen beiden grossen Volkswirtschaften sein werden, die dieses Jahr noch ein leichtes Wirtschaftswachstum erzielen können; die Erholung in den kommenden Jahren könnte schneller vonstattengehen als anderswo.
Das Getriebe der städtischen Wirtschaft läuft aber nur mit der Arbeitskraft von Wanderarbeitern, Menschen, die bisher kaum sichtbar waren. In jeder Stadt koexistieren gewissermassen seit Jahren zwei Städte – die eine bewohnt von den Reichen, die andere von der dienstleistenden Unterklasse. Zum ersten Mal sehen sie sich nun gegenseitig, in ihrer grossen Zahl – und als Menschen, die in gleicher Weise dem Virus ausgesetzt sind. Wird die Stadt ihre Arbeiterinnen und Arbeiter in Zukunft besser behandeln?