Eine Pandemie wie Corona oder ein Wirbelsturm, wie derjenige letzte Woche im Golf von Bengalen, sind Schocks. Eine Pandemie ist ein Schock, der zeigt, wie fragil das globale Ökosystem inzwischen ist. Wirbelstürme sind Schocks, die zeigen, wie es um das Klima steht. Sie schrecken auf. Doch gewarnt war die Menschheit schon lange, denn Trends zeigen seit Jahren in diese Richtung.
Soeben hat einer der heftigsten Wirbelstürme der letzten Jahrzehnte, Zyklon Amphan, Teile Ostindiens und Bangladeschs heimgesucht. Beide Länder kämpfen gegen das Coronavirus und seine Auswirkungen – und nun dieser gewaltige Wirbelsturm, der mit Windgeschwindigkeiten von über 150 Kilometern pro Stunde und Sturmfluten auf Land trifft. Die Region ist einer der dichtest besiedelten Landstriche der Welt. Über vier Millionen Menschen mussten evakuiert werden; tausende Schutzräume wurden geöffnet. Räume, wo Distanzhalten kaum möglich ist.
Es ist eine denkwürdige Zeit: Szenarien, von denen wissenschaftlich bekannt war, dass sie theoretisch möglich sind, werden plötzlich real, und es stellt sich die Frage, ob das die neue Normalität ist.
Der Mensch kommt den Tieren zu nah
In einem kürzlich erschienenen Artikel zu den Massnahmen für die Menschen und die Umwelt nach Corona, schreiben die Autoren – unter ihnen die beiden Ko-Vorsitzenden des Weltbiodiversitätsrats (IPBES), einem Schwestergremium des Weltklimarats (IPCC) –, dass 70 Prozent der neueren Krankheiten zoonotischen Ursprungs sind. Das heisst, sie werden von Wild- oder Haustieren auf den Menschen übertragen. Covid-19 ist eine solche Krankheit. «Zügellose Entwaldung, unkontrollierte Ausdehnung der Landwirtschaft, intensive Landnutzung, Bergbau und neue Siedlungsgebiete sowie die Ausbeutung wildlebender Tierarten haben eine leider ideale Grundlage geschaffen, die das Übergreifen von Krankheiten von Wildtieren auf Menschen ermöglicht», schreiben die Autorinnen und Autoren. Mehr als drei Viertel der Landfläche der Erde sind betroffen, mehr als 85 Prozent der Feuchtgebiete sind zerstört und mehr als ein Drittel des gesamten fruchtbaren Bodens und fast 75 Prozent des verfügbaren Süsswassers werden für Ackerbau und Viehzucht genutzt. Das ist der Grund dafür, dass Menschen immer mehr mit Tieren und ihren Krankheitserregern in Kontakt kommen. Der wissenschaftlichen Gemeinschaft sind diese Fakten längst bekannt; sie warnt seit langem vor den Gefahren von Pandemien.
Die Auswirkungen des menschlichen Handelns auf das Ökosystem oder das Klima werden als Trends und Schocks erlebt. Trends sind Muster, die im Laufe der Zeit beobachtet werden, während Schocks plötzliche Extremereignisse sind, die grössere Aufmerksamkeit erregen. Der Weltbiodiversitätsrat warnt in seiner jüngsten Analyse zum Zustand des weltweiten Ökosystems davor, dass über 500’000 Arten, etwa 9 Prozent der weltweit geschätzten 5,9 Millionen terrestrischen Arten, nicht mehr genügend Lebensraum für ihr Überleben haben.
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Die Menschheit giesst Öl ins Feuer
Die Welt weiss seit Jahren aus der Feder der Wissenschaft, dass die Treibhausgaskonzentration stetig ansteigt. Die Folge ist der ebenso stetige Anstieg der Durchschnittstemperaturen seit der industriellen Revolution. Die Menschheit durchlebt inzwischen aufeinanderfolgende Jahre mit ständig steigender globaler Mitteltemperatur und befindet sich in einem der wärmsten und trockensten Frühlinge in Mitteleuropa. Ironischerweise, so eine Schätzung des Overseas Development Institutes, subventionierten die Regierungen der G20-Länder die Produktion fossiler Brennstoffe – sie sind die Hauptursache für den Klimawandel – mit etwa 444 Milliarden Dollar pro Jahr (Stand 2015).
Da Trends sich langsam und graduell entwickeln, verhält sich die Menschheit wie ein Frosch in der Pfanne: Wenn dieser nämlich ins lauwarme Wasser geworfen wird, das danach langsam zunehmend bis zum Siedepunkt erwärmt wird, lässt er seinen eigenen Hitzetod wehrlos über sich ergehen, wird er jedoch ins kochende Wasser geworfen, rettet er sich blitzschnell mit einem Sprung ins Freie. Und mehr noch: Obwohl der Mensch eine hochentwickelte und intelligente Spezies ist, giesst er dem Feuer, das die Pfanne erwärmt, auch noch Öl hinzu.
Schocks wie ein zerstörerischer Wirbelsturm oder die aktuelle Pandemie erregen hingegen unsere Aufmerksamkeit. Doch es gibt etwa 1,7 Millionen Arten von Coronaviren in freier Wildbahn und 1300 Fledermausarten, die für unzählige Formen künftiger Epidemien und Pandemien sorgen können. Die Menschheit muss die weitere Zerstörung ihres Lebensraums verhindern und lernen, diese Erde mit Wildtieren zu teilen. Nur wenn wir aus Trends lernen, können wir Schocks vermeiden.
Düstere Zukunftsaussichten
Im Jahr 2012 erstellte der Weltklimarat einen richtungsweisenden Bericht über die Zusammenhänge zwischen Klimawandel und Klimaschocks, also extremen Wetterereignissen wie Hitzewellen, Überschwemmungen, Wirbelstürmen und Waldbränden. In den letzten Jahren hat die Welt düsterste Phasen durchlebt mit mehrfachen und unerwarteten Wirbelstürmen in Ostafrika, die unter anderem auch die nun dort wütenden Heuschreckenschwärme ausgelöst haben. Mit Waldbränden, die von Sibirien, Amerika bis nach Australien wüteten, gefolgt von Überschwemmungen biblischen Ausmasses. Und nun Amphan, der stärkste Wirbelsturm der vergangenen 20 Jahre im Golf von Bengalen. Die Ozeane haben in den letzten Jahrzehnten 93 Prozent der globalen Erwärmung absorbiert. Wärmere Gewässer führen zu stärkeren, grösseren und immer heftigeren Wirbelstürmen.
Wetterextreme und Pandemien können gemeinsam auftreten, wie Amphan und Corona zeigen. Kombiniert können sie Regierungen und Gesellschaften das Rückgrat brechen. Es ist höchste Zeit, auf die Natur zu hören. Gerade jetzt werden weltweit Billionen von Mitteln freigesetzt als Antwort auf Corona. Das ist eine Krise – aber auch eine Chance. Doch bei den aktuellen Rettungsschirmen sind nur 4 Prozent der Massnahmen «grün» und haben das Potenzial, die langfristigen Treibhausgasemissionen zu reduzieren. Weitere 4 Prozent werden wahrscheinlich die Netto-Treibhausgasemissionen über das Basisszenario hinaus erhöhen, und 92 Prozent festigen den Status quo.