Heute sind gegen zwei Milliarden Menschen weltweit von Armut betroffen. Die Coronakrise wird hunderte Millionen zusätzlich in die Armut treiben, wenn nicht rasch etwas dagegen unternommen wird. Die Einführung eines vorübergehenden Grundeinkommens könnte die schlimmsten Folgen mildern.
Bevor die Coronakrise sie verstummen liess, wiesen internationale, staatliche und private Entwicklungsakteure gerne auf die Erfolge bei der Armutsbekämpfung hin. Nachdem schon Ziel 1 der Millennium Entwicklungsziele (MDG) von 2000, die weltweite Armut bis 2015 zu halbieren, erreicht worden sei, sei man auch mit dem aktuellen Ziel 1 der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung (SDG) auf gutem Weg. Dieses besagt, dass die «extreme Armut» bis 2030 beseitigt sein sollte. «Extrem» bedeutet ein Einkommen unter 1,90 Dollar pro Tag und Person. Ergänzend will die Agenda 2030 in einem zweiten Teilziel auch den Anteil der Menschen, die in «Armut in all ihren Dimensionen nach der jeweiligen nationalen Definition» leben, mindestens halbieren.
Die Erfolge der Armutsbekämpfung der letzten Jahrzehnte sind also mit Vorsicht zu feiern. Sie bezogen sich ausschliesslich auf die «extreme Armut». Die tatsächlichen Armutsgrenzen, die für jedes Land anders sind, wurden bislang ausser Acht gelassen. Sie fliessen erst seit 2015, als die Agenda 2030 beschlossen wurde, in die Diskussion ein, obwohl sie zentral sind: In der Schweiz zum Beispiel, wo 2018 gemäss dem Bundesamt für Statistik immerhin 660’000 Menschen von Einkommensarmut betroffen waren, wäre es schlicht unsinnig, von 1,90 US-Dollar auszugehen. Doch in der Entwicklungspolitik werden diese markanten nationalen Unterschiede bei den Armutsgrenzen nach wie vor vernachlässigt. Lieber argumentiert man – so auch der Bundesrat – mit den «enormen Fortschritten» bei der extremen Armut, deren Anteil weltweit von 41 Prozent im Jahr 1981 auf 10 Prozent bis Ende 2015 (etwa 735 Millionen Menschen) gesunken ist.
Vor Corona: zwei Milliarden Menschen in Armut
Nur auf extreme Armut zu verweisen, grenzt an Augenwischerei und ist auch für den zuständigen UN-Sonderberichterstatter inakzeptabel. Auch wenn die Weltbank vom kaufkraftbereinigten «internationalen» Dollar ausgeht, sind die als Grenze festgelegten 1,90 US-Dollar einerseits unrealistisch beziehungsweise «extrem» niedrig. Denn bei jeder schlechten Ernte, jedem krankheitsbedingten Ausfall, jedem unerwarteten Missgeschick wäre eine Familie mit einem solchen Einkommen direkt existenziell gefährdet. Andererseits schliesst diese Definition Millionen von Menschen, die in grosser Armut leben, aus, weil sie nicht mehr als «extrem arm» gelten – und somit von den entsprechenden Statistiken nicht erfasst werden. Nicht zuletzt deshalb hat die Weltbank eine Differenzierung vorgenommen, um sich der tatsächlichen Armutssituation anzunähern: Sie berechnet nebst der extremen Armut (1,90 US-Dollar) inzwischen auch die Armutszahlen in den nach Durchschnittseinkommen unterschiedenen Ländergruppen auf der Grundlage ihrer jeweiligen Armutsgrenze. Dabei kommt sie, ausgehend von den aktuellsten verfügbaren Daten, gesamthaft auf rund 2,1 Milliarden Menschen, die in Armut leben:
- Low Income Countries: Armutsgrenze: 1,90 US-Dollar; 318 Millionen Menschen in Armut (45% der Bevölkerung)
- Lower Middle Income Countries: Armutsgrenze: 3,20 US-Dollar; 1,284 Milliarden Menschen in Armut (42% der Bevölkerung)
- Upper Middle Income Countries: Armutsgrenze: 5,50 US-Dollar; 489 Millionen Menschen in Armut (18% der Bevölkerung)
Mit Corona: zusätzlich eine halbe Milliarde arme Menschen?
Die Coronakrise führt nun zu einer dramatischen Verschlimmerung der Situation. Der Verlust von Arbeitsplätzen, der Einbruch bei den Rücküberweisungen, steigende Preise und Unterbrechungen bei Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheitsversorgung wirken sich besonders stark auf arme Bevölkerungsgruppen aus. Wieder einmal sind die Menschen im informellen Sektor, auf dem Land und in der Arbeitsmigration die Hauptleidtragenden. Zum ersten Mal seit 1999 werden die Armutsraten steigen. Die anhaltende Krise wird fast alle in den letzten Jahren erzielten Fortschritte zunichtemachen.
Eine neue Studie des UN-Forschungsinstituts UNU-WIDER zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie zeigt auf, dass die Armut weltweit erheblich ansteigen wird. Dabei werden drei Szenarien des Rückgangs beim Pro-Kopf-Einkommen als Folge des Lockdowns angenommen, basierend auf den Berechnungen des Internationalen Währungsfonds (Rückgang: 5%), der Asiatischen Entwicklungsbank (10%) und der OECD (20%). Daraus ergibt sich laut der Studie, dass zusätzlich zu denjenigen, die schon vor Corona in Armut lebten, «weltweit 80 bis 395 Millionen Menschen in extreme Armut geraten dürften, während diese Zahl auf 124 bis 527 Millionen Menschen ansteigt, wenn man von der höchsten Armutsgrenze von 5,50 US-Dollar pro Tag ausgeht». Im schlimmsten Fall kann also eine halbe Milliarde Menschen wegen Corona in die Armut fallen.
Dabei dürfte sich die bestehende globale Verteilung erheblich verändern. Nicht nur in den schon heute armen Ländern könnte es viel mehr neue Armut geben, sondern vor allem auch in Ländern mit mittlerem Einkommen, die nicht mehr zu den ärmsten Ländern gehören, da ein Grossteil ihrer ehemals armen Bevölkerung nur knapp über die Armutsgrenze gerückt ist. Corona dürfte zu Tage bringen, wie brüchig diese Fortschritte waren. Die Weltbank und das International Food Policy Research Institute kommen zu ähnlichen Einschätzungen.
Ein befristetes Grundeinkommen als Abfederung
Um die schlimmsten Auswirkungen zu mildern, schlägt nun das UN-Entwicklungsprogramm UNDP die sofortige Einführung eines befristeten Grundeinkommens für die ärmsten und verletzlichsten Menschen vor. Damit könnten gegen drei Milliarden Menschen, die vom Lockdown besonders betroffen sind und ihr Einkommen verlieren oder schon verloren haben, Lebensmittel kaufen und die Ausgaben für Gesundheit und Bildung bezahlen. Sie könnten zu Hause bleiben, was den derzeitigen dramatischen Anstieg der Corona-Ansteckungen vor allem in Entwicklungsländern verlangsamen würde.
Laut Berechnungen des UNDP beliefe sich ein sechsmonatiges befristetes Grundeinkommen auf nur 12 Prozent der gesamten finanziellen Aufwände, die aufgrund der Corona-Pandemie für 2020 erwartet werden – oder auf ein Drittel dessen, was die Entwicklungsländer im Jahr 2020 an Auslandsschulden zu begleichen haben. Nach offiziellen Angaben werden die Entwicklungs- und Schwellenländer im laufenden Jahr 3,1 Billionen US-Dollar für Schuldentilgung ausgeben. Ein umfassender Schuldenstillstand für alle Entwicklungsländer, wie vom UN-Generalsekretär gefordert, würde es den Ländern ermöglichen, diese Mittel vorübergehend für Notfallmassnahmen zur Bekämpfung der Auswirkungen der Coronakrise einschliesslich des befristeten Grundeinkommens einzusetzen. Der drohende Anstieg der weltweiten Armut wäre damit langfristig nicht gebannt, aber er würde abgefedert.