Die Schweiz muss im November mit einer ambitionierten Agenda an die 27. Weltklimakonferenz reisen, denn der weltweite Klimaschutz liegt auch in ihrem ureigenen Interesse. Allerdings muss der dringende Umstieg auf erneuerbare Energien und nachhaltiges Wirtschaften mit sozialverträglicher Finanzierung, global fairen Perspektiven und mit Blick auf lauernde Konflikte erfolgen. Sechs wichtige Fakten im Vorfeld der UNO-Weltklimakonferenz.
1. Die Welt steuert auf existenzbedrohliche 2,7 Grad zu
Laut dem jüngsten Statusbericht zum Weltklima der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) erreichte die Treibhausgas-Konzentration in der Atmosphäre im Jahr 2020 einen Rekordwert. Die vergangen sieben Jahre waren die heissesten Jahre seit Beginn der Wetteraufzeichnungen; auch 2022 dürfte eines der heissesten Jahre werden. 2021 lag die globale Durchschnittstemperatur 1,11 Grad über dem vorindustriellen Niveau. Das Pariser Klimaabkommen sieht eine Begrenzung der Erderwärmung auf deutlich unter zwei Grad und möglichst auf 1,5 Grad vor. Ab einem Plus von 1,5 Grad werden Kipp-Punkte, also unumkehrbare Entwicklungen, nicht mehr nur «möglich», sondern schon «wahrscheinlich». Derzeit steuert die Welt auf eine folgenschwere Erhitzung von 2,5 bis 2,9 Grad bis in Jahr 2100 zu. Bereits bis 2026 könnte die 1,5-Grad-Schwelle überschritten werden.
Von 1993 bis 2002 betrug der Anstieg des Meeresspiegels lediglich 2,1 Millimeter pro Jahr. Seit 2013 steigt er jedes Jahr durchschnittlich um 4,5 Millimeter an, weil die Eisschilde rascher abschmelzen. Mit dramatischen Folgen für tiefliegende Städte und Inseln weltweit. Gleichzeitig, so der WMO-Bericht, werden die Meere wärmer und versauern – mit gravierenden Folgen für die Fischerei und die Korallenriffe, die die Küsten schützen. Immer häufiger kommt es schliesslich zu verheerenden Extremwetterereignissen. Dazu gehören Hitzewellen (z.B. in Indien), Fluten (Pakistan), Dürren (Mali), Waldbrände (Kongobecken), Zyklone (Bangladesch) und Hurrikane (USA/Karibik).
2. Die Auswirkungen der Klimakrise sind für die Ärmsten besonders dramatisch
Die Klimaveränderung verknappt das Wasser, gefährdet die Ernährungssicherheit und richtet immer grössere wirtschaftliche Schäden an. Besonders betroffen sind arme Bevölkerungsteile, Minderheiten und Frauen in Entwicklungsländern, denen es an Ressourcen und Widerstandskraft fehlt, um sich ausreichend gegen klimabedingte Naturkatastrophen zu schützen. Gemäss Bericht des Weltklimarats 2022 (IPCC) starben in ärmeren Regionen im letzten Jahrzehnt 15-mal mehr Menschen wegen Fluten, Dürren oder Stürmen als in wohlhabenden Gegenden. Bereits sind 3,3 bis 3,6 Milliarden Menschen so vulnerabel, dass sie sich vor den Folgen der Klimaveränderung kaum schützen können.
Der Rekordmonsun in Pakistan, verstärkt durch die Erderwärmung, hat einen Drittel des Landes überschwemmt. 1500 Menschen verloren ihr Leben; über 33 Millionen Menschen sind von dieser Katastrophe betroffen und haben ihre Existenzgrundlage verloren. 1,7 Millionen Häuser wurden zerstört, ebenso hunderte Brücken, Strassen und Krankenhäuser. Der finanzielle Schaden wird auf 30 Milliarden Dollar geschätzt. Derweil kämpfen die Menschen in der Sahelzone und am Horn von Afrika seit Jahren mit extremen Dürren und Wassermangel. Mehr als 60 Millionen Menschen verteilt auf 13 Länder sind von der gegenwärtigen Hungerkrise betroffen, die mit dem dramatischen Klimawandel sowie den steigenden Nahrungsmittelpreisen im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg erklärt wird.
3. Hauptverantwortlich sind früh industrialisierte Länder und einige Grosskonzerne
Laut Berechnungen von Oxfam verursacht die ärmere Hälfte der Menschheit nur rund 10 Prozent der weltweiten Treibhausgase. Gleichzeitig sind die 10 Prozent reichsten Menschen aufgrund ihres Lebensstils für die Hälfte der weltweiten Emissionen verantwortlich; das «oberste» Prozent allein für 15 Prozent. Diese extreme Diskrepanz sei das Resultat politischer Entscheide in den vergangenen 20 bis 30 Jahren, sagt Oxfam, und eine direkte Folge des jahrzehntelangen fossilen Wirtschaftssystems, auf Kosten von Natur und Klima.
Auch der Schweizer Klimafussabdruck ist gross. Laut Bundesamt für Umwelt (BAFU) liegen die pro-Kopf-Emissionen mit 14 Tonnen CO2-Äquivalenten pro Schweizerin und Schweizer deutlich über dem weltweiten Durchschnitt von knapp sechs Tonnen. Damit gehört die Schweiz in die Top Ten der Klimasünder, wobei auch hierzulande grosse Unterschiede aufgrund von Lebensstil und Wohlstandsniveau bestehen. Hinzu kommen weltweit tätige Schweizer Unternehmen: Was die Klima-Allianz bereits vor Jahren gesagt hat, bestätigt nun die Studie «Klimastandort Schweiz» von McKinsey: Das schweizerische Wirtschafts- und Finanzzentrum beeinflusst global ein Vielfaches der Inlandsemissionen der Schweiz.
4. Die Schweiz ist abhängig von einer erfolgreichen Bekämpfung der Klimakrise
Die Schweiz hat ein grosses Interesse, dass die Welt als Gemeinschaft die Klimakrise in den Griff kriegt. In der Schweiz steigen die Temperaturen doppelt so schnell an wie im weltweiten Durchschnitt. Die Folgen sind laut MeteoSchweiz und der ETH trockenere Sommer mit mehr Hitzetagen und heftigeren Niederschlägen sowie schneearme Winter.
Diese überdurchschnittliche Erhitzung und die damit verbundenen Risiken werden für das Bergland Schweiz eine Herausforderung werden: Ältere Menschen werden unter gesundheitlichen Folgen wegen der zunehmenden Hitzebelastung leiden. Fische verenden wegen zu warmem Wasser in Seen und Flüssen. Im Mittelland wird es mehr stürmen und hageln, Gletscher werden schmelzen, Hänge rutschen und Felsen stürzen. Laut dem vom BAFU erstellten Aktionsplan «Anpassung an den Klimawandel in der Schweiz» für die Jahre 2020-2025 wird der Wohlfahrtsverlust in der Schweiz wegen der Klimaveränderung im Jahr 2060 rund 0,4 bis 1,4 Prozent des BIP betragen. Auf der Basis des heutigen BIPs sind dies zwischen drei und zehn Milliarden Franken pro Jahr. Die Kosten steigen mit jedem Zehntelgrad Erderhitzung.
5. Die Unterstützung für ärmere Länder fällt zu gering aus
Weil die Weltgemeinschaft bisher viel zu wenig gegen die Klimakrise unternommen hat, steigt der Aufwand für Anpassungen an die negativen Folgen der Klimaveränderung bereits rapide an: Allein in Entwicklungsländern werden die notwendigen Anpassungskosten pro Jahr auf rund 70 Milliarden US-Dollar geschätzt. Bis 2030 wird der Bedarf auf 140 bis 300 Milliarden, und bis 2050 auf 280 bis 500 Milliarden steigen, wobei der aktuelle UNO-Bericht zur «Anpassungslücke» (Adaptation Gap Report 2021) mittlerweile die höheren Zahlen als wahrscheinlicher erachtet.
Schon 2009 haben sich die wohlhabenden Länder das Ziel gesetzt, bis 2020 mindestens 100 Milliarden US-Dollar pro Jahr bereitzustellen, damit ärmere Länder Klimaschutz- und Anpassungsmassnahmen finanzieren können. Doch die Industrieländer halten ihr Versprechen nicht ein und verfehlen das 100-Milliarden-Ziel seit Jahren deutlich. Aktuelle Zahlen der OECD aus dem Bericht zur internationalen Klimafinanzierung bestätigen: 2020 wurden nur 83 Milliarden US-Dollar für Klima-Massnahmen in Entwicklungsländern eingesetzt; davon viel zu wenig für Anpassung und lediglich ein Viertel in Form von Zuschüssen. Da der grosse Rest in Form von rückzahlbaren Klimakrediten vergeben wird, verschärft sich die Verschuldung, mit der ärmere Länder bereits jetzt schon kämpfen.
6. Der nachhaltige Wandel ist dringend, muss aber alle mitnehmen
Die weltweiten Auswirkungen der Corona-Pandemie und nun des Ukrainekriegs – steigende Gesundheits- und Lebenshaltungskosten, Wirtschaftseinbrüche oder stockende Zulieferketten – dürfen nicht von der fortschreitenden Umweltkrise ablenken. Im Gegenteil, das Zusammenwirken der sich überlagernden (Umwelt-, Sicherheits- und Gesundheits-) Krisen führt zu einem gefährlichen Mix neuartiger Bedrohungslagen.
Die Regierungen müssen dringend und gemeinsam an grundlegenden Lösungen arbeiten, die alle Krisen gleichermassen miteinbeziehen: Nur eine weitsichtige Politik, kombiniert mit raschem und entschlossenem Handeln, kann die notwendigen Investitionen, die für nachhaltigen Wandel notwendig sind, anstossen. Nur damit können ökologische Kipp-Punkte und neue Konflikte vermieden und gleichzeitig lokale Wertschöpfung und Arbeitsplätze geschaffen werden. Beispielsweise im erneuerbaren Energiesektor, um gleichzeitig fossile Abhängigkeiten zu reduzieren. Zur Erinnerung: Die Schweiz importiert jedes Jahr für acht Milliarden Franken Öl und Gas aus Ländern wie Russland, Libyen, Kasachstan oder Aserbaidschan.
Der dringend notwendige Übergang muss rasch, aber auch sozial gerecht und friedfertig erfolgen. Risiken, die neue Konflikte schüren können, müssen von Anfang an mitbedacht und vermieden werden, um Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen. Beispielsweise den Agrarkraftstoff-Hype der Nullerjahre, der Monokulturen gefördert, und sich so negativ auf Klima, Artenvielfalt und Ernährungssicherheit in ärmeren Ländern ausgewirkt hat. Oder riesige Staudammprojekte, die Flora und Fauna zerstörten und zu Vertreibungen und Menschenrechtsverletzungen führten. Die boomenden Aufforstungs-Versprechen vieler Firmen und Länder oder die neuen Biodiversitäts-Ziele, 30 Prozent der Erdoberfläche unter Naturschutz zu stellen, sind wichtig, dürfen aber nicht zulasten Indigener und lokaler Bevölkerung gehen. Und beim Abbau von Ressourcen wie Lithium oder Bauxit für erneuerbare Technologien kommt es noch immer viel zu häufig zu Umweltverschmutzung und Ausbeutung in ärmeren Ländern.
Ein «Friedensprojekt für das 21. Jahrhundert»
Weltweit übersteigen die Subventionen für fossile Brennstoffe die staatliche Förderung für erneuerbare Energien um ein Vielfaches. Das Geld sollte sinnvoller investiert werden – etwa in den erneuerbaren Umstieg oder zugunsten ärmerer und marginalisierter Menschen und Länder. Bei der Förderung nachhaltiger Lösungen müssen alle Betroffenen sinnvoll in die Planung und Entscheidungsfindung miteinbezogen werden; nicht nur um ihre Unterstützung sicherzustellen und künftige Widerstände zu verringern, sondern weil dies schlichtweg zielführender und effizienter ist.
Der notwendige Wandel bedingt einen neuen Geist der Zusammenarbeit, um die gemeinsamen Bedrohungen angehen zu können – und um nicht in nationalistische Muster zu verfallen, wie z.B. bei der Antwort auf die Covid-Krise, bei der sich die Länder allzu oft in kontraproduktiven Protektionismus und Eigeninteressen zurückzogen. Es braucht grenzüberschreitende Vereinbarungen über die gemeinsame und nachhaltige Nutzung von Ressourcen.
Bei der Präsentation des neuen WMO-Statusberichts fand UNO-Generalsekretär António Guterres klare und eindringliche Worte: «Wir müssen die Verschmutzung durch fossile Brennstoffe verhindern und die Wende hin zu erneuerbaren Energien beschleunigen, bevor wir unser einziges Zuhause abbrennen. […] Wenn wir zusammen handeln, kann die Transformation zu erneuerbaren Energien das Friedensprojekt des 21. Jahrhunderts sein». Es ist zu hoffen, dass die Länder an der Klimakonferenz dem Ernst der Lage entsprechend zusammenrücken – und gemeinsame und nachhaltige Lösungsansätze in Antwort auf die immer komplexere Krisenlage der Welt entwerfen und entschlossen in Angriff nehmen.
*Jürg Staudenmann ist Umwelt-, Entwicklungs- und Sicherheitsexperte beim Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI