Lücken im sozialen Sicherungsnetz machen Gesellschaften krisenanfällig. Ein globaler Fonds könnte den Sozialschutz stärken und den Aufbau von sozialen Sicherheitssystemen beschleunigen. Das würde gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen globaler Krisen entgegenwirken.
«Sozialer Schutz ist ein Menschenrecht.» Mit dieser unmissverständlichen Aussage begründeten Magdalena Sepulveda und Olivier De Schutter vor neun Jahren ihre Forderung nach einem Globalen Fonds für soziale Sicherheit. Beide waren von 2008 bis 2014 Spezialberichterstatterin zu extremer Armut und Menschenrechten beziehungsweise Spezialberichterstatter über das Recht auf Nahrung beim UNO-Menschenrechtsrat. Die Forderung ist nicht neu: 1948 wurde in Artikel 22 der Menschenrechtserklärung festgeschrieben, dass jeder Mensch «als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit» hat.
Es braucht Sozialschutz-Untergrenzen
De Schutter und Sepulveda liessen 2012 keinen Zweifel an der Dringlichkeit eines solchen Fonds: Weltweit waren bis zu 80 Prozent der armen Bevölkerung nicht sozial abgesichert, weil ärmere Staaten über unzureichende oder gar keine sozialen Sicherheitssysteme verfügten. Nicht, weil diese nicht wollten, sondern weil ihnen schlicht die Mittel und die strukturellen Voraussetzungen dazu fehlten. Der geforderte Fonds sollte über zwei Schlüsselsparten verfügen: Die Fazilitätssparte würde die Finanzierungslücke für eine Sozialschutz-Untergrenze in den am wenigsten entwickelten Ländern (LDC) schliessen. Die Rückversicherungssparte würde dazu beitragen, die sozialen Sicherungssysteme gegen die Risiken einer erhöhten Nachfrage infolge grösserer Schocks abzusichern.
Etwa zur gleichen Zeit verabschiedete die Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) ihre Empfehlung 202 zur Schaffung von Sozialschutz-Untergrenzen und startete in den Folgejahren dazu eine weltweite Social Protection Floor Initiative: Jeder Mensch solle zumindest über ein Grundeinkommen verfügen, das zum Leben ausreicht und das durch Geld- oder Sachleistungen garantiert wird: Renten für ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen, Kindergeld, Einkommensunterstützung, Beschäftigungsgarantien und Dienstleistungen für Arbeitslose und arme Erwerbstätige. Damit solle der Zugang zu lebensnotwendigen Gütern und Dienstleistungen, einschliesslich grundlegender Gesundheitsdienste, Grundschulbildung, Wohnraum, Wasserversorgung und Abwasserentsorgung sichergestellt werden.
Lange vernachlässigt, seit Corona wieder im Fokus
Allerdings hatte die soziale Sicherheit in armen Ländern lange Zeit wenig Aufmerksamkeit. Doch in den letzten Jahren nahmen Hunger und extreme Armut unter den Menschen, die ohne Einkommensmöglichkeiten und ohne angemessenen sozialen Schutz sind, zu. Die Klimaerwärmung und seit 2020 die Coronapandemie verschärfen die Notlage von Millionen von Menschen. So stieg laut der Welternährungsorganisation (FAO) die Anzahl unterernährter Menschen innerhalb eines Jahres um 70 bis 161 Millionen und lag Ende 2020 zwischen 720 und 811 Millionen Menschen. Und die IAO berechnete für die Entwicklungsländer für das Jahr 2020 eine gigantische Finanzierungslücke von rund 1,2 Billionen US-Dollar beim grundlegenden Sozialschutz. Die weltweite öffentliche Entwicklungshilfe (ODA) von 161 Milliarden US-Dollar konnte dies bei weitem nicht abfedern.
Als Folge dieser dramatischen Entwicklungen rückt die Frage der sozialen Sicherung endlich wieder in den Fokus der Politik. Die Coronapandemie hat gezeigt, dass viele Länder bereit sind, grosse finanzielle Anstrengungen zu unternehmen, um im eigenen Land den sozialen Schutz sicherzustellen. Um nicht erneut internationale Rückschritte in Kauf zu nehmen, muss nun zwingend die Bereitschaft folgen, arme Länder bei der Bewältigung der sozialen Bedrohungen zu unterstützen.
So erneuerte Olivier De Schutter, der inzwischen Spezialberichterstatter zu extremer Armut und Menschenrechten ist, im Juni 2021 in seinem Bericht an den Menschenrechtsrat den Aufruf von 2012. Er fordert darin die Staaten und internationalen Organisationen dazu auf, einen Globalen Fonds für soziale Sicherheit zu schaffen, um die Armut zu überwinden: Der Fonds könne nationale Initiativen stärken und gut funktionierende Formen der internationalen Zusammenarbeit ausbauen. Er könne dazu beitragen, die derzeitigen Nothilfeprogramme in nachhaltige Sozialschutzsysteme umzuwandeln, die auch auf künftige Krisen reagieren könnten. Es sei notwendig, als globale Gemeinschaft solidarisch zu handeln und das Ziel der universellen sozialen Sicherheit entschlossen voranzutreiben, so De Schutter.
Gleiches hatte bereits im September 2020 die «Global Coalition für Social Protection Floors» gefordert: In einem öffentlichen Appell hatten über 200 zivilgesellschaftliche Organisationen und Gewerkschaften gemeinsam dazu aufgerufen, zum Schutz der Schwächsten während der Coronapandemie und darüber hinaus den genannten Fonds als Finanzierungsmechanismus für Sozialschutz einzurichten. Damit könnten Länder mit niedrigem Einkommen ihre Sozialschutzsysteme erweitern und verbessern.
Der Fonds würde armen Ländern auch die Erreichung von Ziel 1.3 der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung erleichtern: «Den nationalen Gegebenheiten entsprechende Sozialschutzsysteme und Massnahmen für alle umsetzen, einschliesslich eines Basisschutzes, und bis 2030 eine breite Versorgung der Armen und Schwachen erreichen.» Und wohlhabende Länder würden durch Alimentierung des Fonds dem Anspruch von Ziel 10.4 gerecht, «politische Massnahmen [zu] beschliessen, insbesondere […] den Sozialschutz betreffende Massnahmen, und schrittweise grössere Gleichheit [zu] erzielen.»
Verknüpfung von sozialer Sicherung und Klimapolitik
Auch der WeltRisikoBericht 2021 legt in seinem Spezialteil den Fokus auf die Herausforderungen der sozialen Sicherung. Er betont, dass der globale Ausbau sozialer Sicherungssysteme zum einen notwendig sei, um Menschen individuell und gesellschaftlich besser zu schützen, gegen Schäden abzusichern und bereits gemachte Fortschritte in der Armuts- und Hungerbekämpfung zukünftig nicht zu gefährden. Und «zum anderen kann die soziale Sicherung über den Katastrophenfall hinaus erheblich zu systemischen Veränderungen beitragen, die der sozialen Ungleichheit nachhaltig entgegenwirken.»
Heute genügen viele bestehende Sicherungssysteme nicht. Damit sie transformative Wirkung entfalten können, müssen sie ganzheitlich und rechtebasiert aufgestellt sein, soziale Ungerechtigkeiten ausgleichen und für alle Bevölkerungsgruppen verfügbar, zugänglich und bezahlbar sein. Dafür müssen sie flexibel ausgestaltet und in der Lage sein, sich an veränderte Bedürfnisse anzupassen. Schliesslich wird entscheidend sein, soziale Sicherung, Katastrophenvorsorge sowie Klimaschutz und -anpassung systematisch miteinander zu verknüpfen.
Zum Schluss: Es braucht entschlossene und mutige Schritte zu mehr nationaler und internationaler Solidarität, um grundlegende soziale Sicherungssysteme aufzubauen. Denn Sozialschutz ist eine Investition mit potenziell hoher Rendite. Er unterstützt den Aufbau von Humankapital, hat erhebliche Multiplikatoreffekte in der lokalen Wirtschaft und trägt zu inklusivem Wachstum, zu Widerstandsfähigkeit und zu Perspektiven in Krisenzeiten bei. Eine internationale Unterstützung würde es den Empfängerländern ermöglichen, ihre inländischen Ressourcen schrittweise zu erhöhen.
Doch die weltweiten Appelle für einen globalen Fonds und für Untergrenzen der sozialen Sicherung bleiben weitgehend ungehört – auch von der Schweizer Politik, aber auch von der hiesigen Zivilgesellschaft und den Gewerkschaften. Nur wenige Organisationen aus der Schweiz finden sich auf der Liste der 200 Organisationen der globalen Koalition, die sich für den globalen Fonds stark macht. Das sollte sich ändern.