Abfallwirtschaft im westlichen Balkan ist ein relativ neues Geschäft, aber mit erheblicher gesellschaftlicher und politischer Sprengkraft. Sie kann Menschen zusammenzubringen, um sich gemeinsam für eine demokratische Zukunft zu engagieren, und so ganz nebenbei alte Widerstände und Trennlinien überwinden.
Jeden Morgen hilft Milot Hasimja aufräumen. Der Chefredaktor des kosovarischen Fernsehnetzwerks Klan Kosova macht in sozialen Medien auf Müllhaufen aufmerksam und taggt den Chef oder die Chefin der betroffenen Gemeinde. Oder er packt selbst mit an. Schon sein Vater habe immer Abfall entsorgt und dafür nur Kopfschütteln geerntet. «Nun habe ich immer Plastiktüten dabei. Ich bin immer am Putzen.»
Abfallbewirtschaftung im westlichen Balkan ist neu, sie hat aber die Macht, Menschen zusammenzubringen. Zivilgesellschaftliche Organisationen nutzen sie, um demokratische Prozesse einzuführen. So unterstützt Helvetas im Kosovo diese Anstrengungen im Rahmen des Demokratieentwicklungsprojekts DEMOS, im Auftrag der DEZA sowie von Schweden und Norwegen.
Als es anfänglich darum ging, den Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern zu verbessern, war die Beteiligung gering. Ausser beim Thema Abfallbewirtschaftung. «Abfall ist für alle das gleiche Problem. Es gibt keine ethnische Positionierung rund um den Abfall. Ein Kosovo-Serbe und ein Kosovo-Albaner würden darin übereinstimmen, dass sie in einer sauberen Stadt leben wollen. Das verbindet über Grenzen, Ethnien und Religionen hinweg», erklärt Norbert Pijls von Helvetas. Auch Milot Hasimja sagt, das Thema würde traditionelle Trennlinien überwinden. Ein sauberes Quartier werde von allen Menschen geschätzt.
Vom kommunistischen Zentralismus …
Dass sich Menschen dennoch oft nicht für die Sauberhaltung öffentlicher Räume verantwortlich fühlen, ist laut Milot Hasimja historisch begründet. Die den Kosovo-Albanern und -Albanerinnen feindlich gesinnte Staatskontrolle im kommunistischen Jugoslawien habe dazu geführt, dass die Menschen sich viel mehr in den Häusern aufhielten. Diese hielten sie sauber, während «vor der Haustür die Grenze zwischen dem Individuum und der misstrauten Regierung lag – und oft noch heute liegt».
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs waren die (neuen) Länder Südosteuropas bestrebt, sich von der kommunistischen Zentralisierung zu lösen und ihre lokalen Regierungen zu stärken – ein schwieriger Prozess, bei dem die lokalen Behörden auf die Kooperation der Bürgerinnen und Bürger angewiesen sind. Und dies bedingt gegenseitiges Vertrauen. Doch Vertrauen ist nicht leicht zu gewinnen, zumal «der Begriff des staatsbürgerlichen Engagements lange Zeit falsch verwendet wurde», wie Valbona Karakaçi von Helvetas erklärt. Das kommunistische Regime habe die Bürgerbeteiligung für ideologische Zwecke missbraucht, und als das Regime wechselte, hätten die Menschen vom Staat nichts mehr wissen wollen.
Die Zeit des Kommunismus ist vorbei, aber alte Zöpfe und anhaltende Probleme wie Korruption und politische Unruhen machen die heutige Situation nicht einfacher. Als Antike Torba die Verantwortung für die Abfallwirtschaft in der Gemeinde Diber in Albanien übernahm, begegnete ihr Misstrauen aus allen Richtungen: seitens der Bürgerinnen, der Gemeinderäte und sogar der rasch wechselnden Bürgermeister von Diber. «Die Menschen waren fest davon überzeugt, dass die Gemeindeverwaltung, auch wenn sie direkt bei ihr anklopften, weiterhin ihr eigenes Ding machen würde. Sie erwarteten nicht, gehört zu werden.» Konfrontiert mit weit verbreiteter Skepsis, politischem Aufruhr und Korruption, gelang es Antike Torba dank grossem Einsatz, die Dinge in ihrer Gemeinde zu verändern. Ein Zeichen des Fortschritts war, dass die Zahl der offiziellen Beschwerden von Bürgerinnen und Bürgern zunahm.
… zu kapitalistischen Müllhalden und deren Potenzial
Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandel Kosovos brachte die Hoffnung auf ein neues Verhältnis zwischen Staat und Bevölkerung – aber auch Müll. «Das Abfallproblem kam mit den kapitalistischen Produktionsmethoden und der damit verbundenen Menge an Verpackungen», sagt Norbert Pijls. «Die Gesellschaften auf dem Westbalkan wurden sehr schnell mit dem Marketing-Teil der wirtschaftlichen Entwicklung konfrontiert – schneller, als das öffentliche Bewusstsein über die Folgen des Abfalls für die Umwelt mithalten konnte», ergänzt Valbona Karakaçi. Flüsse füllten sich mit Plastik, Wälder mit Abfall. Sowohl die Menschen als auch der Staat waren unvorbereitet. Begriffe wie Abfallbewirtschaftung, Verbrennungsanlagen, Mülldeponien, CO2-Emissionen oder Verschmutzung waren neu.
In der Folge beeilten sich Regierungen, gemeinnützige Organisationen und die Bevölkerung, Lösungen zu finden. Dabei lernten sie nicht nur eine ganze Menge über Abfall und seine Entsorgung, sondern veränderten auch ihre Vorstellungen von einer demokratischen Gesellschaft. Denn Abfall sei ein mächtiges Werkzeug für die Politik, sagt René Véron, Professor für Sozialgeografie an der Universität Lausanne. «Er fängt an zu stinken, sieht hässlich aus, zieht Schädlinge an. Er geht nicht weg. Wenn man den Abfall kontrollieren kann, gibt er einem eine Menge Macht.» Wer sich mit Abfall beschäftige, könne grössere politische Prozesse analysieren. «Korruption, Modernisierung und sozialräumliche Segregation kann man besser verstehen, wenn man die Abfallwirtschaft analysiert. Es hilft, etwas sehr Konkretes zu haben, mit dem man beginnen kann. Etwas, das auf den ersten Blick nicht politisch aussieht, obwohl es sehr politisch ist.»
Für Félix Schmidt, internationaler Berater und Dozent an der EPFL Lausanne, ist die Abfallbewirtschaftung «ein fantastisches Werkzeug, um alle Ebenen der lokalen Verwaltung zu verbessern». Es bedingt gutes Finanzmanagement, eine umfassende Logistik und eine gute Regierungsführung. Wenn ein Glied der Kette nicht richtig funktioniere, könne auch das Ganze nicht funktionieren. Erster Schritt sei eine Basisdienstleistung für die Bevölkerung, etwa das regelmässige Einsammeln des Mülls. Dies motiviere die Menschen, den Abfall in die Container zu werfen und die öffentlichen Plätze zu reinigen. Die Strassenreinigung erfordere relativ geringe Investitionen in Lastwagen, Container und Personal. Damit verbessere sich die Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger schnell und spürbar. Die Behörden könnten damit das Vertrauen der Bevölkerung gewinnen.
Knacknüsse Gebühren und Steuern
Als grosses Hindernis erweist sich dabei aber die Erhebung von Gebühren. Bürgermeister fürchten um ihre Wiederwahl und die Zahlungsunwilligkeit in der Bevölkerung ist ausgeprägt – ein weiteres Erbe des kommunistischen Regimes, erklärt Valbona Karakaçi. Zudem könne ein Teil der Gesellschaft keine Zahlungen leisten. All dies sind Gründe, weshalb der Staat Abfalldienstleistungen subventioniere. Doch das schaffe einen «Teufelskreis»: Die Bevölkerung sehe keinen Grund, ihren Beitrag zu leisten.
Dass es aber funktionieren kann, hat Félix Schmidt in Shkodra in Nordalbanien beobachtet, als eine Kandidatin fürs Bürgermeisteramt mit der Erhebung von Steuern Wahlkampf machte – und gewählt wurde. Säumigen Steuerzahlenden erklärte sie in eigenhändig geschriebenen Briefen den Vorteil von Steuern und wie wichtig jeder einzelne Beitrag sei. Schon bald hatte die Gemeinde mehr Geld eingenommen als budgetiert war. Die neue Bürgermeisterin verbesserte damit die Dienstleistungen für ihre Bevölkerung.
Die logistischen, finanziellen und administrativen Herausforderungen, die entstehen, um Städte und Dörfer sauber zu halten, sind immens. Denn bei der Abfallbewirtschaftung geht es um mehr als nur Sauberkeit. Sie ist kein Problem, das einfach gelöst werden kann, sondern ein langwieriger Transformationsprozess, der verantwortungsvolle Behörden, nachhaltige Produktions- und Konsummuster und gesellschaftliche Veränderung verlangt: Deponien müssen sicher gestaltet, Abwasser dauerhaft geklärt und die Abfallverminderung stetig vorangetrieben werden. So, wie es die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung mit Ziel 12.5 will: «Bis 2030 das Abfallaufkommen durch Vermeidung, Verminderung, Wiederverwertung und Wiederverwendung deutlich verringern.»
Shayda Smart ist Studentin der Internationalen Studien bei The Open University.
Masha Scholl ist verantwortlich für die globale Kommunikation und die regionale Kommunikation in Osteuropa.
Der Artikel erschien in einer längeren englischsprachigen Fassung im Helvetas Newsletter Mosaic.