Der Welthunger-Index (WHI) gilt seit Jahren als wichtigste Referenz bei der Erfassung der weltweiten Hungersituation. Die Daten des aktuellen Berichts zeigen: Seit dem Jahr 2000 wurden zwar Fortschritte im Kampf gegen den Hunger erzielt, dennoch haben heute immer noch über 820 Millionen Menschen jeden Tag zu wenig zu essen – vor allem in Asien (512 Mio.) und in Afrika (232 Mio.). In Zusammenarbeit mit Helvetas beleuchtet der diesjährige Bericht speziell den Klimawandel als Risikofaktor für Hunger.
Am 15. Oktober erschien der neue Welthunger-Index. Er bewertet die Situation in 117 Ländern auf der Grundlage der vier Indikatoren Unterernährung, Auszehrung bei Kindern (zu geringes Gewicht im Verhältnis zur Körpergrösse), Wachstumsverzögerungen bei Kindern und Kindersterblichkeit. Eingestuft wird sie je nach Schweregrad als niedrig, mässig, ernst, sehr ernst oder gravierend. In 43 Ländern stuft der WHI 2019 die Hungerlage weiterhin als ernst ein; im Jemen, Tschad, in Madagaskar und Sambia ist die Situation sehr ernst, in der Zentralafrikanischen Republik, wo 60 Prozent der Bevölkerung unterernährt sind, ist sie gar gravierend.
Damit ist das Ziel 2 der UNO-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, den Hunger bis 2030 vollständig zu besiegen, ausser Sichtweite geraten: Die Zahl der Menschen, die Tag für Tag zu wenig zu essen haben, ist seit 2015 von 785 Millionen Menschen auf über 820 Millionen sogar angestiegen. Schon deswegen muss die Weltgemeinschaft dringend handeln – umso mehr, als dass die zunehmenden Wetterextreme aufgrund des Klimawandels die weltweite Ernährungslage destabilisieren und Gewaltkonflikte in vielen armutsbetroffenen Ländern die Nahrungsmittelproduktion beeinträchtigen. Alleine um die Wachstumsverzögerungen und schwere Auszehrung von Kindern zu behandeln, braucht es während der nächsten zehn Jahre weitere 70 Milliarden US-Dollar – und dies zusätzlich zu den bereits vorhandenen Hilfsgeldern. Ohne ein schnelleres und stärkeres Engagement im Kampf gegen den Hunger wird der WHI im Jahr 2030 noch immer für 45 Länder Alarm schlagen.
Klimawandel untergräbt Ernährungssicherheit
Aufgrund der zunehmenden Klimaerwärmung wird eine angemessene und nachhaltige Ernährung der Weltbevölkerung immer schwieriger. 150 Jahre rasanten Wirtschaftswachstums und der daraus resultierende Anstieg der Treibhausgasemissionen haben die globalen Durchschnittstemperaturen verglichen mit dem vorindustriellen Zeitalter um 1°C erhöht. Ohne drastische Gegenmassnahmen werden die weltweiten Durchschnittstemperaturen zwischen 2030 und 2052 voraussichtlich um mindestens weitere 1,5°C ansteigen. Seit Anfang der 1990er Jahre hat sich die Zahl der extremwetterbedingten Naturkatastrophen verdoppelt. Die Intensität und Häufigkeit von Stürmen, Bränden, Überschwemmungen, Kälteeinbrüchen und Dürren hat zugenommen. Der Meeresspiegel ist seit 1900 weltweit um 16 bis 21 Zentimeter gestiegen.
Dies alles wirkt sich negativ auf die Ernährungssituation der Menschen aus: Bereits jetzt sinken die Erträge der wichtigsten Nahrungspflanzen wie Mais und Weizen aufgrund von Extremwetterereignissen, epidemischen Pflanzenkrankheiten und abnehmenden Wasserressourcen. Wetteranomalien und der Klimawandel treiben Nahrungsmittelpreise in die Höhe und erschweren damit immer mehr Menschen den Zugang zu Nahrungsmitteln. Zudem beeinträchtigt der Klimawandel zunehmend auch die Qualität der Nahrungsmittel und kann insbesondere bei armen Menschen zu Mangel- und Fehlernährung führen.
Massnahmen gegen die Bedrohungen des Klimawandels
Der Klimawandel wirkt sich nicht nur gravierend auf die Herstellung und Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln aus, sondern auf die Qualität, Nutzung und Stabilität ganzer Ernährungssysteme. Um diesen Bedrohungen entgegenzuwirken und die Auswirkungen des Klimawandels auf die Ernährungssicherheit zu bewältigen, braucht es ehrgeizige Massnahmen seitens der internationalen Politik und lokaler Regierungen. Dies fordert Helvetas-Klimaexpertin Rupa Mukerji im aktuellen WHI. Voraussetzung ist, dass vor allem die einkommensstarken, für den Klimawandel hauptverantwortlichen Staaten ihren Verpflichtungen und Versprechungen aus der Agenda 2030 und dem Pariser Klimaabkommen endlich rasch und konsequent nachkommen.
Die internationale Staatengemeinschaft muss die Treibhausgasemissionen markant und nachhaltig mindern. Ebenso muss sie ihre finanzielle Unterstützung für besonders gefährdete Menschen und Regionen deutlich erhöhen. Die Mittel für Anpassungsmassnahmen an den Klimawandel müssen vorrangig den am wenigsten entwickelten Ländern zugutekommen – und zwar zusätzlich zu den Geldern für die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit. Dabei können Anpassungsstrategien nicht von aussen aufgezwungen werden. Vielmehr müssen die betroffenen Länder und Bevölkerungsgruppen solche Strategien, mit denen sie ihre Ernährungssicherheit verbessern können, unter Einbezug ihres traditionellen Wissens selber entwickeln. Dabei muss die landwirtschaftliche Produktion diversifiziert werden, denn auch extensive Landwirtschaft und Monokulturen schaden der Ernährungssicherheit.
Die erfolgreiche Bekämpfung von Armut und Ungleichheit ist unabdingbar für die Verbesserung der Widerstandkraft lokaler Gemeinschaften gegen die Folgen des Klimawandels. Dies setzt vermehrte Investitionen in die ländliche Entwicklung, die soziale Sicherung, das Gesundheitswesen und die Bildung voraus. Dabei müssen dortige Regierungen sicherstellen, dass die Land- und Wasserrechte einschliesslich der Gewohnheitsrechte der ländlichen Bevölkerung und der indigenen Völker garantiert werden. Zudem braucht es Regeln und Vorschriften, damit private Unternehmen Agrarrohstoffe nicht zulasten der lokalen Bevölkerung und ihres Rechts auf Nahrung gewinnen.
Regierungen müssen ihre Klima-, Ernährungs- und Handelspolitik so aufeinander abstimmen, dass die Risiken für die Ernährungssicherheit minimiert werden. Denn eine eiseitige Gewichtung von Massnahmen zur Minderung von Treibhausemissionen – wie zum Beispiel die grossflächige Nutzung von Agrarland für die Herstellung von Agrotreib- und -brennstoffen – kann die Ernährungssicherheit stark gefährden.