Über viele Jahrzehnte wurde die Eisenbahn vernachlässigt. Nun erlebt der Waren- und Personentransport auf Schienen in Afrika und in Lateinamerika eine Renaissance. Mehrere neue Projekte sind aufgegleist. Viele davon kommen aber weniger schnell voran als geplant. Nun könnten US-amerikanische und Europäische Entwicklungs-Initiativen den Megaprojekten neuen Schwung verleihen.
1825 wurde die erste öffentliche Bahnstrecke für dampfbetriebene Züge zwischen den nordenglischen Städten Stockton und Darlington eröffnet – trotz einiger Skepsis in der Bevölkerung. So manche fürchteten, vom Lärm und der hohen Geschwindigkeit krank zu werden. Heute gilt der Zugverkehr als eine der nachhaltigsten Mobilitätsformen: Der Klimafussabdruck pro Kilometer ist bei einem kurzen Inlandflug 43-mal grösser als bei einer internationalen (elektrifizierten) Zugreise. Gleichzeitig sind Kurzstrecken mit dem Zug beinahe fünf Mal klimafreundlicher als die Nutzung eines Benzinautos.
In der Schweiz wurde die erste Bahnstrecke 1847 zwischen Zürich und Baden eröffnet, im Volksmund «Spanisch-Brötli-Bahn» genannt. Fünfzig Jahre später, 1902, begann die Geschichte der SBB. Vorausgegangen war eine Abstimmung, in der das Volk (damals nur die Männer!) mit 386'634 Ja- gegen 182'718 Nein-Stimmen dem «Bundesgesetz betreffend Erwerbung und Betrieb von Eisenbahnen für Rechnung des Bundes […]» grünes Licht gaben. Der Abstimmungskampf war heftig: Die Befürworter argumentierten für eine Vereinheitlichung des Bahnwesens unter der Kontrolle des Bundes. Die Gegner warnten vor einem zusätzlichen Beamtenheer, das die Macht des Bundes vergrössern und seine Finanzen zerrütten würde.
Traurige Vergangenheit
Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde in Europa und Nordamerika ein vernetztes Verkehrssystem gebaut. Die Bahn trieb die Industrialisierung voran, denn ihre Infrastruktur war Voraussetzung für die Entwicklung der Schwerindustrie. Heute haben die USA das weltgrösste Eisenbahnnetz, gefolgt von China, Russland, Kanada, Indien und Argentinien. Die Schweiz folgt mit rund 6000 Streckenkilometern auf Rang 34, direkt hinter Österreich. Während in den USA allerdings nicht einmal ein Prozent des Eisenbahnnetzes elektrifiziert ist, fahren die hiesigen Züge fast ausschliesslich mit Strom. Und, während die ländliche Abdeckung in grossen Ländern wie Brasilien, Russland, Kanada oder Australien schwach ist, hat die Schweiz das dichteste Schienennetz und die beste Eisenbahninfrastruktur der Welt.
Die Eisenbahn hat den Ländern enormen Fortschritt gebracht – und unzähligen Menschen Leid: Beim Bau des Gotthardtunnels vor über 140 Jahren starben 199 Arbeiter, von Felsen erschlagen, durch Dynamit getötet, von Wagen oder Lokomotiven zerquetscht. Viele weitere Männer starben in den Jahren nach dem Durchstich an den Spätfolgen von Verletzungen, Krankheiten und Unterernährung. Noch viel dramatischer und brutaler war die Entstehung der Eisenbahn in ärmeren Ländern, wo der Bau einherging mit Ausbeutung und Versklavung. In Lateinamerika wurde der Bau der Bahnstrecken über die Anden und durch Dschungelgebiete unter Zwangsarbeit von Indigenen oder Arbeitsmigrant:innen aus Jamaika vorangetrieben. Auch das Schienennetz in Afrika wurde während der Kolonialzeit unter unmenschlichen Bedingungen gebaut. Im Zentrum der Projekte standen Erschliessung und Transport von Rohstoffen. Entsprechend führten die Strecken von küstenfernen Abbaugebieten zu den Häfen, von wo aus die wertvollen Güter in alle Welt verschifft wurden.
Südamerikas Bahnprojekte
Gegenwärtig erlebt die Bahn in vielen lateinamerikanischen Ländern eine Renaissance. Trotz Bedenken von Tier- und Umweltschützer:innen sowie starker Opposition der links-indigenen Zapatisten, die im Bundesstaat Chiapas Umsiedlungen befürchten, treibt der mexikanische links-nationalistische Präsident López Obrador den sogenannten «Tren Maya» voran. 2020 starteten die Arbeiten am neuen Bahnnetz, das demnächst auf einer 1554 km langen Strecke die Halbinsel Yucatán mit Städten in verschiedenen Bundesstaaten verbinden soll. Bereits Ende dieses Jahres soll der erste Abschnitt des Intercity-Eisenbahnprojekts in Betrieb genommen werden. Die mexikanische Regierung erhofft sich Vorteile für den Gütertransport und den Tourismus sowie industrielle und wirtschaftliche Entwicklung für das ganze Land. Europäische Partner sind am Projekt beteiligt, so z.B. die spanische Eisenbahngesellschaft und die Deutsche Bahn sowie der französische Zughersteller Alstom.
Auch Chile ist dabei, sein über hundert Jahre altes Bahnnetz zu erneuern. Dereinst soll der «modernste Zug Südamerikas» die Hauptstadt Santiago in dreieinhalb Stunden Fahrt mit der 400 km entfernten Stadt Chillán im Süden des Landes verbinden. Entlang der Zugstrecke sollen gleich mehrere Bahnhöfe ausgebaut und saniert werden. Die in China produzierten Loks sind wie beim «Tren Maya» mit Diesel-Hybrid-Motoren ausgestattet, die den Zug antreiben und gleichzeitig Batterien aufladen, mit denen er die halbe Strecke elektrisch zurücklegen kann. Der seit einem Jahr mithilfe eines Linksparteienbündnisses regierende Präsident Gabriel Boric wollte in Chile noch weitere Bahnprojekte vorantreiben, musste diese jedoch aus Rücksicht auf die Tier- und Umwelt zurückstellen.
Bereits seit zehn Jahren existiert die vom bolivianischen Ex-Präsidenten Evo Morales vorangetriebene Idee des sogenannten «bi-Ozeanischen Zugkorridors». Die Zugstrecke sollte dereinst die brasilianische Atlantikküste quer durch den bolivianischen Amazonas-Regenwald mit der Pazifikküste Perus verbinden. Besonderes Interesse an der Verbindung zeigte China, hätte die Strecke doch den langen Umweg via Transportschiff durch den Panamakanal im Norden oder um das Kap Horn im Süden ersparen und die Reisezeit für Weizen- und Soja-Exporte aus dem Mittleren Westen Brasiliens nach Asien um bis zu zwei Wochen verkürzen sollen. Doch das Projekt stockt – wegen politischer Unwägbarkeiten und Spannungen in der Region, mangelnder Finanzen der beteiligten Länder sowie potenziell gravierender Umweltschäden.
Afrikanische Zukunftsmusik
Nicht nur in Lateinamerika wird der Schienenverkehr immer bedeutender. Auch Afrika macht vorwärts. Seit neun Jahren treibt die Afrikanische Union (AU) das Megaprojekt «African Integrated High-Speed Railway Network» voran. Bis 2033 soll ein Hochgeschwindigkeitsnetz entstehen, das wichtige Hauptstädte des Kontinents verbindet. Den Auftakt macht Marokko, das 2018 den 320 km/h schnellen Zug zwischen Tanger und dem 340 km entfernten Casablanca eröffnete. In einer ersten Etappe bis 2033 sollen 19 Verbindungen mit einer Länge von insgesamt beinahe 17'000 km entstehen. Bis 2063 sollen im Rahmen der sog. «Agenda 2063» der AU 62 weitere Verbindungen folgen. Afrikas Gesamtnetz soll einmal fast 74'000 Schienenkilometer umfassen. Zum Vergleich: In der EU gibt es etwa 230'000 Eisenbahn-Kilometer.
Die AU gibt drei Projekten Priorität – der Verbindung zwischen der tansanischen Hafenstadt Dar es Salaam und Ruandas Hauptstadt Kigali, der Strecke zwischen Kampala in Uganda und Bujumbura in Burundi sowie einer Route zwischen Johannesburg und Walvis Bay in Namibia, die über Botswanas Hauptstadt Gaborone geführt werden soll. Elf weitere Projekte stehen vor einer Machbarkeitsstudie. Die Hindernisse beim Bau neuer Bahnstrecken sind allerdings gross: Wie in Lateinamerika stammt auch das Schienennetz Afrikas aus der Kolonialzeit. Die erste Linie eröffnete 1856 zwischen Alexandria und Kairo in Ägypten. Bestehende Bahnrouten verlaufen vom Landesinneren an die Küsten, gedacht für den Transport von Rohstoffen wie Gold und Holz nach Europa. Der aktuelle Plan der AU sieht hingegen vor, den innerafrikanischen Handel zu stärken sowie die Mobilität für möglichst viele Afrikaner:innen günstiger, schneller und umweltfreundlicher zu machen.
Neue Angebote aus den USA und der EU
In das afrikanische Schienennetz haben bislang europäische Länder wie Deutschland und vor allem China investiert. Marokkos Hochgeschwindigkeitszug wurde mit europäischen Krediten und staatlichen Geldern finanziert. China finanzierte den neuen Schnellzug zwischen Nairobi und Kenias wichtigstem Hafen in Mombasa. Doch mit der wachsenden Verschuldung vieler afrikanischer Länder werden internationale Investoren und Konsortien zurückhaltender. Derweil mangelt es den afrikanischen Regierungen an Geld, um Lokomotiven und Infrastruktur erneuern zu können. Viele Zugverbindungen bleiben marode, immer wieder werden Strecken eingestellt.
Neues Leben könnten Präsident Bidens Pläne für eine «Neue Partnerschaft mit Afrika» einhauchen: Die US-Regierung kündigte am zweiten USA-Afrika-Gipfel im vergangenen Dezember an, 55 Milliarden US-Dollar zu investieren, unter anderem in Klimaschutz und technologische Entwicklung – und in Infrastruktur. Und auch die EU bietet mit ihrer «Global Gateway»-Strategie eine auf demokratische Werte fussende Alternative zu Chinas «Neuer Seidenstrasse», um afrikanische Infrastrukturprojekte stärker zu unterstützen. Für viele afrikanische Partner dürfte das europäische Angebot einer regel- und wertebasierten Kooperation auf Augenhöhe attraktiv sein.