Im Juni 2019 hat das Parlament nach zehnjährigem Ringen das revidierte Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen verabschiedet. Während die Kantone den im Gesetz verankerten Paradigmenwechsel für mehr Nachhaltigkeit wortgetreu umsetzen, hat das zuständige Bundesamt bei der Revision der Bundesverordnung die Einhaltung weitergehender Arbeitsstandards drastisch eingeschränkt. Eine Irreführung, die korrigiert werden muss.
Unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit schloss das eidgenössische Parlament im Juni 2019 die Revision des Bundesgesetzes über das öffentliche Beschaffungswesen (BöB) ab. Vorausgegangen war ein mehr als zehn Jahre dauerndes Hin und Her zwischen Bund und Kantonen und zwischen progressiven und konservativen Kreisen. Doch das lange Ringen hatte sich gelohnt: Am Schluss resultierte ein eigentlicher Paradigmenwechsel: die Nachhaltigkeit erhielt endlich den Stellenwert, den sie verdient. Das Gesetz tritt am 1. Januar 2021 in Kraft.
Nachhaltigkeit und der Artikel 12.2
Neu ist die Nachhaltigkeit in allen drei Dimensionen im Zweckartikel des BöB verankert: Das Gesetz will bei öffentlichen Beschaffungen von Gemeinden, Kantonen und Bund nicht nur einen preisgünstigen Einsatz der öffentlichen Mittel, sondern gleichzeitig einen «volkswirtschaftlich, ökologisch und sozial nachhaltigen Einsatz». Damit trägt das revidierte BöB auch zur Umsetzung der «Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung» bei. Bei einem jährlichen Einkaufsvolumen von rund 40 Milliarden Franken ist das nicht unbedeutend.
Der Wille des Gesetzgebers also ist klar: Nachhaltigkeit statt Preisdumping, und zwar nicht nur in Umweltfragen, sondern auch in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht. Konkretisiert ist das in Artikel 12, Absatz 2. Dieser besagt, dass bei im Ausland erbrachten Leistungen mindestens die Kernkonventionen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) eingehalten werden müssen. Darüber hinaus dürfen die Beschaffungsstellen «die Einhaltung weiterer wesentlicher internationaler Arbeitsstandards fordern und entsprechende Nachweise verlangen sowie Kontrollen vereinbaren». Es geht somit explizit auch um IAO-Konventionen, die für internationale Wertschöpfungsketten relevant sind, unabhängig davon, ob sie von der Schweiz ratifiziert wurden.
Nationalrat Fabio Regazzi (CVP, TI) hatte diesen Passus als Einzelantrag in die parlamentarische Debatte eingebracht und konnte dafür mit 192 Ja-Stimmen eine überwältigende Mehrheit von links bis rechts gewinnen, dem auch der Ständerat folgte. In der schriftlichen Begründung hielt er fest: «Die Beschaffungsstellen sollen die Möglichkeit erhalten, in spezifischen Fällen über das absolute Minimum hinausgehende Anforderungen in die Ausschreibung aufzunehmen. Es kann nicht sein, dass ein Schweizer Anbieter chancenlos ist, nur weil er die inländischen Gesetze einhält oder bei Produktion im Ausland faire Arbeitsbedingungen anbietet. Beschaffungsstellen sollen keine zusätzlichen Vorschriften einhalten müssen, aber auf bekannte Missstände reagieren können.»
Zwar begnügt sich das neue BöB mit Freiwilligkeit und überlässt es den Beschaffungsstellen, die sozialen Anforderungen auszuweiten. Anders als früher ist eine solche Ausweitung nun aber explizit erlaubt. Damit beseitigte das Parlament eine jahrelange Rechtsunsicherheit, welche gerade für fortschrittliche Beschaffungsstellen ein ärgerliches Hindernis darstellte.
Seriöse Kantone
Kaum war das Gesetz unter Dach und Fach, machten sich die verschiedenen Verwaltungseinheiten daran, die entsprechenden Verordnungen zu überarbeiten. Auf Kantonsebene war das Interkantonale Organ für das öffentliche Beschaffungswesen (INÖB) zuständig, das im Auftrag der Bau-, Planungs- und Umweltdirektoren-Konferenz (BPUK) eine Neufassung der «Interkantonalen Vereinbarung über das öffentliche Beschaffungswesen» an die Hand nahm.
Mitte November 2019 verabschiedete das INÖB die revidierte interkantonale Vereinbarung, die nun von allen Kantonen ratifiziert werden muss. Inhaltlich widerspiegelt diese den Paradigmenwechsel in Sachen Nachhaltigkeit und hat die Formulierung des Gesetzesartikels 12, Absatz 2 ohne Änderung übernommen. Damit dürfen Kantone und Gemeinden bei Beschaffungen in Zukunft weitergehende Sozialkriterien einfordern als bisher. Werden etwa neue Uniformen für die Kantonspolizei bestellt, so dürfen von den Anbietern neu auch Nachweise bezüglich Sicherheit am Arbeitsplatz, existenzsichernder Löhne oder geregelter Arbeitszeiten verlangt werden. All dies war unter dem alten BöB nicht möglich.
Trickreicher Bund
Anders sieht es auf Bundesebene aus. Das federführende Bundesamt für Bauten und Logistik (BBL) legte die revidierte Verordnung über das öffentliche Beschaffungswesen (VöB) vor, die am 12. Februar vom Bundesrat verabschiedet wurde. Darin interpretiert das BBL den Gesetzesartikel 12, Absatz 2 sehr eigenwillig und legt in Artikel 4, Absatz 2 der Verordnung kurzerhand fest, dass Beschaffungsstellen neben den IAO-Kernkonventionen nur «die Einhaltung von Prinzipien aus weiteren Übereinkommen der IAO verlangen [können], soweit die Schweiz sie ratifiziert hat». Von dieser Einschränkung ist im Gesetz nicht die Rede.
Dass die Einhaltung weiterer Standards nur verlangt werden kann, wenn diese im Rahmen von IAO-Konventionen von der Schweiz ratifiziert wurden, ist nicht nachvollziehbar und widerspricht dem Paradigmenwechsel für mehr Nachhaltigkeit. Erstens ist die Bestimmung inhaltlich und rechtlich unsinnig, da die Produktion gar nicht in der Schweiz stattfindet. Zweitens schliesst sie allgemein anerkannte, branchenspezifische Standards einer Lieferkette aus. Und drittens bleiben dadurch eklatante Lücken bezüglich sozialer Mindestnormen weiter bestehen. Denn zentrale Aspekte wie die Verhinderung exzessiver Arbeitszeiten, die Etablierung einer formellen Arbeitsbeziehung oder die Zahlung existenzsichernder Löhne werden vom VöB nicht abgedeckt, da die Schweiz solches zwar im Inland arbeitsrechtlich geregelt, entsprechende IAO-Übereinkommen aber nicht ratifiziert hat. Damit ist dem Preisdumping auf Kosten von Arbeiterinnen und Arbeitern weiterhin Tür und Tor geöffnet.
Eine öffentliche Vernehmlassung zum revidierten VöB fand nicht statt, obwohl dies der Bedeutung der Vorlage durchaus angemessen gewesen wäre. Stattdessen schleuste das BBL das Geschäft im Herbst 2019 unbemerkt von der Öffentlichkeit durch eine summarische Konsultation mit den zuständigen Parlamentskommissionen. Dabei fiel erstaunlicherweise niemandem auf, dass der Wille des Gesetzgebers in einem entscheidenden Punkt missachtet worden war.
Heute ist klar: Die aktuelle Bundesverordnung macht in Sachen Nachhaltigkeit einen grossen Schritt rückwärts – und ist in dieser Frage vom Bundesgesetz nicht gestützt. Das schafft nicht nur neue Rechtsunsicherheit in künftigen Beschaffungsprozessen des Bundes, sondern ermöglicht weiterhin einen Preiswettbewerb auf Kosten von Arbeitssicherheit und Menschenwürde – zwei Probleme, die das Parlament mit der Gesetzesrevision eigentlich beseitigen wollte. Nun stünde es diesem gut an, diese «Trickserei» der Verwaltung nicht einfach hinzunehmen, sondern so rasch wie möglich korrigierend einzugreifen.