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Nothilfe – wie läuft das ab?

In Madagaskar wütete der stärkste Zyklon seit 13 Jahren. Die tagebuchartigen Notizen von Landesdirektor Christian Steiner zeigen die Situation vor Ort und welche Fragen und Organisationsschritte es für die Nothilfe braucht.
VON: Christian Steiner - 14. März 2017
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Sonntag, 5. März, noch zwei Tage bis zum Eintreffen des Zyklons
Zuerst der Gedanke an die Sicherheit der eigenen Familie und der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Notvorrat anlegen, Fensterscheiben mit Klebeband abdecken, falls der Wind sie eindrückt, die Badewanne füllen für Wasservorrat. Das Arbeitsprogramm der Helvetas-Projekte anpassen, Reisen ins Inland verschieben, Büro schliessen für die Zeit der höchsten Alarmstufe. Kommunikation mit Schweizer Botschaft, Regierungsstellen und Headoffice sicherstellen. Information suchen und weitergeben.

Montag, 6. März, noch einen Tag bis zum Eintreffen des Zyklons
Organisationstalent ist gefragt, zusätzlich zur gewohnten Arbeit kommen nun viele neue Aufgaben dazu (Koordinationsgespräche mit Regierung und internationalen Organisationen: Wie schlimm wird es? Wer ist wo? Wer kann welche Sofortmassnahmen ausführen? Wo hat es Notvorräte?). Nebenbei muss auch der normale Betrieb weiterlaufen, z.B. müssen die beiden ETHZ-Studentinnen, die gleichzeitig mit dem Zyklon eintreffen, abgeholt, orientiert und eingeführt werden. Die Tage werden lang, wir sind rund um die Uhr beschäftigt, die Nächte sind kurz.

Dienstag und Mittwoch 7-8. März
Chaos, Ungewissheit, Warten, Informationen holen und interpretieren. Immer wieder testen, ob Strom und Internet und Elektrizität zurück sind. Mitarbeiterinnen melden, dass der Zyklon bei ihnen angekommen ist, dass der Wind peitscht und sie sich in Sicherheit bringen. Dann hört man während bangen 20 bis 30 Stunden nichts mehr von ihnen. Die Informationen treffen langsam und bruchstückhaft ein. Hier ein Foto, da ein SMS, erste Berichte der Krisenzentrale von Madagaskar. Es wird schlimm, der rote Alarm wird für die Hälfte der riesigen Insel ausgerufen. Später erfahren wir, dass Helvetas-Teams mit den Autos unterwegs waren, um gefährdete Menschen in Sicherheit zu bringen, mit Erfolg. Die Wasserpegel sind extrem rasch angestiegen und haben viele überrascht.

Donnerstag, 9. März
Das Schlimmste ist vorbei, zuerst wird abgeklärt, ob alle Mitarbeitenden von Helvetas okay sind und ob die Büros etc. noch stehen. Bei uns ist alles in Ordnung, aber der Kontakt mit den Mitarbeitern im Feld ist sporadisch. Einige sind in den Bergdörfern abgeschnitten, kein Durchkommen wegen der reissenden Flüsse über den Strassen respektive dem, was von den Strassen noch übrig ist. Stromversorgung ist gekappt, Telefonmasten liegen zu Dutzenden am Boden, Bäume kreuz und quer. Menschen werden vermisst, andere strömen zu Tausenden in die über zweihundert Notauffanglager, weil sie ihre Häuser verloren haben.

Freitag, 10. März
In den betroffenen Regionen unterstützen unsere Leute die lokalen Behörden. Es gilt, möglichst schnell herauszufinden, wo was passiert ist und wo welche Hilfe gebraucht wird. Eine Fläche fünfmal so gross wie die Schweiz ist betroffen, riesige Gebiete stehen unter Wasser. Dort, wo das 200 km grosse Zentrum des Zyklons gewütet hat, hat er  85% der Landwirtschaftsflächen zerstört. Unsere Mitarbeitenden sammeln Informationen mit den lokalen Behörden, melden diese an mich und ich leite sie weiter an die Regierungs- und Hilfskoordinationsstellen. Schnell wird klar, es wird Hilfe von aussen brauchen. Darüber informiere ich die Helvetas Geschäftsstelle in Zürich, mit der ich seit Beginn der Krise in Kontakt bin. Bald ist entschieden, Helvetas wird aktiv in der Nothilfe für sein Partnerland Madagaskar. Es braucht nun Bildmaterial, Erklärungen, Helvetas startet eine Solidaritätsaktion und sammelt Geld. Das Management will Analysen, was will Helvetas Madagaskar genau machen? Wo? Warum? Welchen Unterschied macht es, wenn Helvetas da mitmacht? Ein Budget muss her.

Auch die Familie ist unter dem Eindruck der Ereignisse. Heute Morgen musste meine 7-jährige Tochter Lorena ein möglichst langes Wort schreiben. Ich staunte nicht schlecht, als ich es sah. (Christian Steiner, Helvetas)

Samstag, 11. März
Unsere Leute vor Ort erhalten Instruktionen, Dorf um Dorf wird die Situation abgeklärt, es wird bestimmt, welche Produkte für wie viele Menschen gebraucht werden. Wie kommt das Geld in die Region? Wo kaufen wir ein? Wie und wann und durch wen wird die Nothilfe verteilt? Planung ist gefragt – und Bauernschläue. Profitgierige Opportunisten wittern bereits das Geschäft, die Grundnahrungsmittel sind in den stark betroffenen Gebieten um das Vierfache angestiegen. Listen werden gemacht, Preise verglichen, Absprachen mit lokalen Regierungsräten und Partnerorganisationen. Der gute Wille ist allseits da, aber es braucht Koordination vor Ort. Das Wochenende fällt für uns alle aus. Ich frage mich bereits, wie ich es schaffe, dass unsere Mitarbeitenden sich wieder erholen können. Brauchen wir Verstärkung?

Sonntag, 12. März, 16 Uhr
Meetings in Antananarivo alle zwölf Stunden. Ich sitze in der zweiten Reihe. Vorne sind die UNO, das Rote Kreuz, die Profis für humanitäre Hilfe. Es gibt erste Bilder aus der Luft. Noch fehlen die Informationen aus 25% der Gemeinden, aber es ist schon klar, es gibt 300’000 Menschen, die Hilfe brauchen. Über 200’000 Personen mussten ihre Häuser verlassen, nachdem diese vom Winde verweht oder überschwemmt wurden. Besonders schlimm: die massiven Ernteausfälle. Es werden tausende Tonnen an Nahrungsmitteln fehlen wegen der verlorenen Ernten. Es wird lange dauern, denn die landwirtschaftliche Ernte (Reis zum Essen, aber auch Vanille, Kakao und Nelken für den Verkauf) ist für zehntausende Familien weg. Ein ganzes Jahreseinkommen futsch, und natürlich gibt es keine Versicherung. Hunderte von Schulgebäuden sind nicht mehr funktionstauglich. Heute Nacht muss jede Gruppe die Zahlen (Schäden und Budget) aufschreiben und begründen. UNICEF schätzt, dass alleine für den Bereich Wasser etwa 3 Mio. USD benötigt werden.

… 22 Uhr
Morgen dann Krisensitzung der Regierung. Aufgrund unseres Berichts von heute Nacht wird entschieden, ob ein nationaler oder regionaler Notstand ausgerufen wird. Ob Madagaskar die internationale Gemeinschaft um Hilfe bittet. In den Gängen wird gemunkelt, dass es wahrscheinlich nicht so weit kommt. Mit etwa 20 Vermissten und 50 bestätigten Toten (Dunkelziffer nützt nichts, viele Dörfer sind derart abgelegen, dass man nichts weiss) ist es nicht schlimm genug, und das Land braucht sonst schon so viel Hilfe. Politische Erwägungen spielen mit.

Montag, 13. März
Morgen Nachmittag gehe ich an die Sitzung des humanitären Landesteams, einberufen durch die UNO. Bis dann wissen wir wahrscheinlich, ob der Notstand erklärt wird oder nicht. Wenn ja, wird es mehr finanzielle Mittel geben, da offizielle Geldgeber und Botschaften dann auch mithelfen. Sonst muss mit dem gearbeitet werden, was UNO, Regierung und Nichtregierungsorganisationen wie Helvetas mobilisieren können. Der Helvetas-Vorstand hat mir 85’000 CHF zugesagt, das heisst, wir können bereits handeln, während die Spenden noch gesammelt werden müssen.

Morgen Vormittag 9 Uhr geht es bei uns los mit der Hilfe. Heute Nacht kriege ich per Mail von unseren Feldteams die detaillierten Budgets und Kostenvoranschläge. Morgen wird entschieden und es geht los mit dem Einkauf der Produkte. Wir haben Listen mit etwa 1’500 notleidenden Familien in der Kakaoprojektregion DIANA und etwa 1’500 Familien in der Vanilleprojektregion Sava, die wir von den lokalen Gemeinderäten bestätigt haben. Die folgenden Rationen pro Familie werden wir nun besorgen und in den kommenden Tagen verteilen:

Pack de vivres : Riz (02kg/ménages) – bougies (03u/ménage) – Savon (03u/ménage) – Huile (0.5l/ménage) – Haricot (1 kg/ménage) – Sucre (0.5kg/ménage)

Kit Wash : Sûr’Eau (02u/ménage) – Savon (01u/ménage) – Seau 15l (01/ménage)

Dienstag, 14. März
Gleichzeitig muss auch langfristig geplant werden. Die Bauernfamilien haben Ernte und Saatgut verloren, in manchen Fällen auch ihr Land. Nach der Überlebenshilfe kommt also die Wiederaufbauhilfe. Beschädigte Brunnen müssen repariert und zerstörte Felder wieder angebaut werden. Wir werden mit unserer Hilfe einmalige Kosten für Baumaterial und Saatgut unterstützen und die Selbsthilfe anstossen. Und dann so schnell wie möglich wieder zur Entwicklung übergehen, denn zu viel Hilfe würde Abhängigkeit kreieren.

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