«Vorsicht!», ruft Eliane Mary. «Da oben hängt eine!» Ich ziehe den Kopf ein und mache einen Schritt zur Seite. Eliane packt die lange Holzstange mit beiden Händen, holt aus und schlägt mit zwei, drei präzisen Schlägen die Kakaofrucht vom Stamm. Mit einem dumpfen Knall landet diese auf dem Boden. Eliane hebt die Frucht auf und wirft sie auf einen Haufen, auf dem schon andere Kakaofrüchte liegen: grüne, gelbe, orange, violette.
Mit der Holzstange in der einen und einer Machete in der anderen Hand streift Eliane, 40-jährig und erst seit ein paar Jahren Kakaobäuerin, weiter durch ihr kleines Stück Land, eine Parzelle, auf der Kakao und andere Bäume wachsen. Sie liegt am Rand von Ambodifinesy, einem Dorf am Sambirano-Fluss im Nordwesten Madagaskars.
Elianes Blick wandert die langen Baumstämme hoch; sie blinzelt, wenn ein Sonnenstrahl das dichte Blattwerk durchdringt. «Kakaofrüchte wachsen am Stamm», erklärt sie mir, «nicht in der Krone.» Sie erkennt an der Intensität der Farbe, dass eine
Frucht reif ist. Wenn sie Glück hat, hängen mehrere an einem Stamm.
Nach etwa einer halben Stunde sind alle reifen Früchte geerntet. Eliane setzt sich auf den Boden, nimmt Frucht um Frucht in die Hand, halbiert jede mit einem sauberen Macheten-Schlag und klaubt mit den Fingern die glibberigen Bohnen aus der Frucht heraus. Sie reinigt die Bohnen vom Fruchtfleisch, das sie umgibt, und wirft sie in einen grossen Kübel. Eliane lacht: «Das sieht vielleicht nicht schön aus, fühlt sich aber gut an.»
Aussergewöhnlicher Rohstoff
Die meisten Menschen hier im Tal leben vom Kakao-Anbau. Viele Bäuerinnen und Bauern verarbeiten die Bohnen selber. Andere, wie Eliane, verkaufen sie an Verarbeiter:innen, die sie in einem mehrtägigen Verfahren fermentieren und trocknen. Haben die Bohnen ihre charakteristische braune Farbe erhalten, werden sie in grossen Säcken auf Lastwagen auf der staubigen Piste nach Ambanja gebracht, in die «Kakao-Hauptstadt» Madagaskars. Dort werden sie im Labor des Nationalen Kakao-Komitees, einer von der Regierung beauftragten Organisation, gründlich auf ihre Qualität geprüft und dann in die ganze Welt verschifft.
Etwa 15’000 Tonnen Kakao produzieren die madagassischen Bäuerinnen und Bauern jedes Jahr. Das entspricht etwa 0,3 Prozent des weltweiten Kakaobedarfs. «Das mag wenig scheinen», sagt Monika Tobler, die beim Schweizer Schokoladehersteller Lindt & Sprüngli für das Lindt & Sprüngli Farming Program in Madagaskar zuständig ist. «Aber dafür ist der Kakao in Madagaskar von einer hohen Qualität.» Aus diesem Grund verwendet Lindt & Sprüngli ihn als Edelkakao zum Beispiel für Produkte, die einen sehr grossen Kakao-Anteil haben.
Lindt & Sprüngli legt nicht nur Wert auf eine hohe Qualität, sondern auch auf eine nachhaltige und sozialverträgliche Produktion: Dem Unternehmen sind Naturschutz und Wiederaufforstung rund um die Kakaoanbaugebiete äusserst wichtig. Es leistet aber mit dem Farming Program auch einen Beitrag dazu, dass die Bauernfamilien Zugang zu sauberem Trinkwasser haben, damit Kinder nicht von weit her Wasser holen müssen, sondern die Schule besuchen können. Das Programm übernimmt auch Renovation und Wiederaufbau von Schulen in der Region – etwas, wozu der Staat oft nicht imstande ist. «Die Investitionen in funktionierende Schulen ist eine wichtige Massnahme innerhalb unseres Ansatzes zur Prävention von Kinderarbeit», sagt Monika Tobler.
Waldschutz für die Zukunft
Um diese Ziele zu erreichen, spannt das Unternehmen in Madagaskar mit Helvetas zusammen. Gemeinsam mit lokalen Partnerorganisationen sorgt Helvetas dafür, dass Lindt & Sprünglis Nachhaltigkeitsvorgaben umgesetzt werden. Zugleich arbeiten Helvetas und das Unternehmen unter anderem intensiv an der Rückverfolgbarkeit des Kakaos, um sicherzustellen, dass die Bohnen nicht aus den geschützten Wäldern Madagaskars kommen: Seit gut zwei Jahren lässt er sich bis zu den Bauern und Bäuerinnen und ihren Feldern rückverfolgen. Detaillierte Daten- und Kartenvergleiche haben ausserdem ergeben, dass der Kakao der neuen EU-Norm entspricht, die unter anderem abholzungsfreien Kakao verlangt.
Eine der Partnerorganisationen ist «Madagascar National Parks» (MNP). Sie ist zuständig für den Unterhalt und den Schutz der grossen Naturschutzreservate in Madagaskar. In seinem Büro in Ambanja treffe ich Charles Marie Andriamaniry. Er ist unter anderem verantwortlich für das Naturschutzreservat Tsaratànana, ein Biodiversität-Paradies, das an das Sambirano-Tal grenzt und mit einer Fläche von 486 Quadratkilometern etwa so gross ist wie der Kanton Obwalden.
«Viele Menschen hier leben in grosser Armut», sagt Charles. «Das hat schwerwiegende Folgen für den geschützten Wald.» Tatsächlich haben in den letzten Jahren viele Bauernfamilien ihre Felder und Kakaoparzellen in den Wald hinein vergrössert, um ihre Ernten zu steigern. «Das ist der falsche Weg, aber oft sehen die Leute keine Alternativen.»
In Madagaskar gibt es zum Schutz der grossen Naturreservate strenge Gesetze. Wer unbewilligt Holz schlägt, riskiert, ins Gefängnis zu kommen. «Abholzung hat einen negativen Einfluss auf die Biodiversität», erklärt Charles, «aber auch die Folgen
für das Klima in der Region sind verheerend.» Madagaskar leide bereits stark unter den Folgen des Klimawandels. Noch vor 15 Jahren habe die Regenzeit im Sambirano-Tal von Oktober bis Mai gedauert, jetzt regne es nur noch von Dezember bis März.
Würde der dichte, feuchte Tropenwald noch weiter an Fläche verlieren, sagt der Experte, geriete das Klima noch mehr aus dem Gleichgewicht.
Kontext Madagaskar:
Madagaskar – die viertgrösste Insel der Welt – beherbergt dank ihrer isolierten Lage eine einzigartige, vielfältige Tier- und Pflanzenwelt. Doch Armut, Hunger und Brennholzbedarf gefährden die natürlichen Ressourcen und die Biodiversität. Eine schwache Wirtschaft und politische Konflikte erschweren die Armutsbekämpfung.
Wirbelstürme, Überschwemmungen und Dürren zerstören immer wieder die Lebensgrundlagen der Bevölkerung. Helvetas arbeitet seit 1982 in Madagaskar. Der Schwerpunkt liegt auf der wirtschaftlichen Stärkung von Kleinbauernfamilien, damit sie ihre Familie ernähren, aber auch ihre Produkte verkaufen können.
Wichtig dabei sind faire Handelsbedingungen und der Schutz der wertvollen Wälder. Einen weiteren Fokus richtet Helvetas auf sichere Trinkwasserversorgungen – vom solarbetriebenen Pumpsystem bis zum Wasserkiosk, der mit einem Jeton-System funktioniert und von einer lokalen Firma betrieben wird, – sowie Sanitäranlagen, um hygienebedingte Krankheiten zu verhindern.
Kunst des Kakaoanbaus
Im Auftrag der Regierung kontrolliert die Organisation deshalb mit Patrouillengängen und Drohnenflügen, dass die Bäuerinnen und Bauern ihre Felder nicht auf Kosten des geschützten Waldes vergrössern. Bei diesen Kontrollen wurden in letzter Zeit vermehrt Cannabisfelder aufgefunden, da Cannabis einträglicher ist als Kakao. «Aber es ist natürlich genauso verboten, wie Bäume im Naturschutzreservat zu schlagen», sagt Charles.
Um zu verhindern, dass die Leute mit dem Gesetz in Konflikt kommen, setzen Helvetas und MNP neben Kontrollen vor allem auch auf Aufklärung und Sensibilisierung. «Es ist zentral, dass die Leute verstehen, weshalb sie den Wald nicht roden sollen», sagt Charles, «nur so können wir das Problem an der Wurzel bekämpfen.»
Verstehen allein reicht allerdings häufig nicht. Die Bäuerinnen und Bauern fällen die Bäume oft aus grösster Not heraus, um kurzfristig zu Geld zu kommen, oder weil sie zu wenig ernten können. Sie brauchen gangbare Alternativen. Aus diesem Grund zeigt Helvetas ihnen, wie sie mit angepassten Anbaumethoden ihre bestehenden Parzellen und Felder besser nutzen und den Ertrag steigern können, damit der nahe, geschützte Wald verschont bleibt.
Während ich Eliane Mary dabei beobachte, wie sie die Kakaobohnen aus den Früchten löst, erklärt mir Nantenaina Nambinintsoaniony von Helvetas – er unterstützt die Produzent:innen im Tal –, worauf es beim Kakaoanbau ankommt: «Kakaopflanzen brauchen viel Schatten», sagt er, «doch viele Kakaoparzellen sind zu dicht mit Schattenbäumen bepflanzt, was wiederum einen negativen Effekt auf die Erträge hat.» Er zeigt auf den Boden: «Auch dürfen faule Früchte nicht liegenbleiben, sonst kommen Schädlinge ins Unterholz.»
Eliane hat ihre Parzelle, die sie von ihren Eltern geerbt hat, auf Anraten des Helvetas-Beraters in den letzten Jahren etwas gelichtet. Sie reinigt auch regelmässig den Boden von faulen Früchten und losen Blättern. Mit diesen Massnahmen konnte sie ihren Kakaoertrag massiv steigern. «Mir waren viele Dinge gar nicht bewusst», sagt sie, fast entschuldigend. Dabei ist sie noch gar nicht so lange Kakaobäuerin.
Charles Marie Andriamaniry, Verantwortlicher für das Naturschutzreservat Tsaratànana in Madagaskar
Chancen und Stolpersteine
Wir sind ins Dorf zurückgekehrt und sitzen vor dem einfachen Elternhaus, in dem Eliane mit ihren beiden Kindern wohnt. «Acht Kinder durchzubringen», sagt sie, «war für meine Eltern keine einfache Aufgabe.» Trotzdem hätten sie sie in eine private katholische Sekundarschule geschickt, um ihr eine gute Berufsausbildung zu ermöglichen.
Danach ging Eliane ins Gymnasium und schaffte es bis in die Abschlussklasse, doch dann fiel sie durch die Matura. «Ich hatte meinen Kopf zu dieser Zeit wohl woanders», sagt sie und lächelt verlegen. Um ihre Eltern finanziell nicht länger zu belasten, arbeitete sie in der Stadt zunächst als Rezeptionistin in einem Hotel, dann als Haushälterin. In dieser Zeit lernte Eliane ihren ersten Mann kennen. Doch der liess sie nach der Geburt des Sohnes im Stich.
Als zuhause im Dorf ihr Vater schwer krank wurde und kurz darauf starb, ging Eliane mit ihrem mittlerweile dreijährigen Sohn zurück nach Ambodifinesy, um ihre Mutter zu unterstützen. Doch schon bald wurden die Mittel knapper. Eliane liess ihren Sohn im Dorf zurück und suchte wieder eine Anstellung in der Stadt. Sie wurde ein zweites Mal Mutter, doch die Beziehung wollte auch dieses Mal nicht klappen, und sie kehrte zurück nachhause. Kaum daheim, starb auch ihre Mutter. Eliane sah keine andere Möglichkeit, als den Hof ihrer Eltern zu übernehmen. Und so wurde sie Kakaobäuerin.
Allen Widrigkeiten zum Trotz
Das ist nun fünf Jahre her. «Ich musste in dieser Zeit viel lernen», sagt Eliane. «Ich bin stolz, habe ich es geschafft.» Heute werfen nicht nur ihre Pflanzen mehr Ertrag ab als früher. Als Folge der Zusammenarbeit mit Helvetas hat Eliane auch angefangen, ihren Anbau zu diversifizieren: Zwischen den Kakaobäumen wachsen jetzt auch Vanillepflanzen und auf einem Feld daneben Schwarzaugenbohnen. Das bringt ihr nicht nur zusätzliches Einkommen, sondern bereichert auch den Speiseplan der Familie.
Eliane Mary, Kakaobäuerin, Madagaskar
Mit dem Einkommen aus dem Kakao konnte Eliane sich drei Kühe, drei Schafe und ein paar Hühner anschaffen. Eine Kuh kostet etwa 150 Franken. Wenn sie sie später weiterverkauft, erhält Eliane fast das Doppelte, was ziemlich genau das Schulgeld für ihre beiden Kinder in einem Jahr deckt. «Ich möchte, dass sie eine Ausbildung machen und einen guten Beruf erlernen, dafür gebe ich alles», sagt sie.
Die Unterstützung durch Helvetas und das Lindt & Sprüngli Farming Program ermöglichen es ihr, alles zu geben, in mehrfacher Hinsicht: Unweit von Elianes Haus steht neu ein Wasseranschluss. Mühelos balanciert sie einen Eimer voll Wasser auf dem Kopf zu ihrem Haus, bevor sie die Kakaoernte vom Morgen zu ihrer Nachbarin bringt, die die Bohnen aus der Gegend fermentiert und trocknet. «Heute war die Ernte nicht besonders gross. Es kommen wieder bessere Tage», sagt Eliane und lächelt. Sie geht über die trockene Piste zurück zu ihrem Haus, wo sie das Mittagessen für ihre Kinder und sich zubereitet: Reis, Bohnen und etwas Gemüse. Morgen wird sie wieder früh nach reifen Kakaofrüchten Ausschau halten.