Der Bundesrat hat heute den Länderbericht der Schweiz zur Umsetzung der UNO-Ziele für nachhaltige Entwicklung bis 2030 («Agenda 2030») publiziert. Er geht in vielen Bereichen nicht über eine Alibi-Übung hinaus.
Medienmitteilung der entwicklungspolitischen Dachorganisation Alliance Sud, die von Helvetas und anderen grossen Schweizer Hilfswerken getragen wird.
«Der Länderbericht 2022 zeigt leider einmal mehr: Die Schweiz sitzt seit 2015 im Bummler und hat sich nun nach halber Strecke eine Verspätung eingehandelt, die nur noch schwer aufzuholen ist», sagt Andreas Missbach, Geschäftsleiter von Alliance Sud. Das Schweizer Kompetenzzentrum für internationale Zusammenarbeit und Entwicklungspolitik kritisiert insbesondere folgende Punkte:
- Der Bundesrat erweckt den Eindruck, als wolle er allerhöchstens die Schweiz retten, aber ganz sicher nicht die Welt. Im Länderbericht orientiert sich der Bundesrat bei der Beurteilung der «Fortschritte» und der «Herausforderungen» der Schweiz an den Zielen der «Strategie Nachhaltige Entwicklung (SNE)», die er nach langen Verzögerungen vor einem Jahr publizierte. Die SNE hat die Ziele der Schweizer Nachhaltigkeitspolitik bereits auf einen kleinen Teil der Agenda 2030 reduziert und setzt mit wenigen Ausnahmen einen rein innenpolitischen Fokus. Entsprechend kann auch der Länderbericht nur dort wirklich konkret werden, wo in der SNE klare Ziele formuliert sind. Das ist ausschliesslich in den Bereichen «nachhaltiger Konsum und nachhaltige Produktion», «Klima, Energie und Biodiversität» und «Chancengleichheit und sozialer Zusammenhalt». Konkrete aussenwirtschaftspolitische Ziele, die eine nachhaltige Entwicklung der Welt fördern würden, formuliert der Bundesrat nirgends. «Der Bericht ist angesichts der vielfach belegten negativen Auswirkungen der Schweiz auf die Zielerreichung anderer Länder – vor allem wegen ihres Finanzplatzes und ihrer Funktion als grösstes Handelszentrum im globalen Rohstoffhandel – über weite Strecken nicht mehr als eine bauchpinselnde Nabelschau», konstatiert Missbach.
- Mindestens so viel Geld wie dank der EZA des Bundes in Entwicklungsländer fliesst, verlieren diese durch Konzernsteuerflucht in die Schweiz wieder. Der Bundesrat hat ein sehr eingeschränktes Verständnis von «Politikkohärenz für nachhaltige Entwicklung» – obwohl die Agenda 2030 gerade darauf grossen Wert legt: Massnahmen zur Zielerreichung sollten nicht durch die Prioritäten in anderen Politikfeldern hintertrieben werden. So sollte die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit (EZA) mit dem Ziel der Armutsreduktion im Ausland nicht durch die steuerpolitische Bevorzugung multinationaler Konzerne in der Schweiz unterlaufen werden. «Die Tiefsteuerpolitik der Schweiz schafft für Konzerne aber Anreize, Gewinne, die in Entwicklungsländern erarbeitet wurden, in der Schweiz zu verbuchen», sagt Dominik Gross, Verantwortlicher Agenda 2030 und Experte für internationale Finanz- und Steuerpolitik bei Alliance Sud. Auch in der Handelspolitik beteuert der Bundesrat zwar, Nachhaltigkeits-Prinzipien in Freihandelsverträgen berücksichtigen zu wollen – sie sind aber in keinen offiziellen Dokumenten des Bundes klar definiert. Fortschritte in diesem Bereich sind entsprechend nicht messbar.
- Die Agenda 2030 ist in der Bundesverwaltung ungenügend verankert, die Zusammenarbeit mit Wissenschaft und Zivilgesellschaft funktioniert schlecht. Der Bundesrat streicht im Länderbericht zwar heraus, innerhalb des Bundes für die Koordination der Umsetzung der Agenda 2030 in vielen verschiedenen Politikbereichen gesorgt zu haben. Im Direktionskomitee Agenda 2030, in dem die wesentlichen Bundesämter vertreten sein sollten, ist seit Ende März allerdings ausgerechnet die für die aussenpolitische Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) zentrale Vertretung des Aussendepartementes vakant. Die Nachfolge für den ausgeschiedenen EDA-Vertreter und Co-Delegierten des Bundesrates für die Agenda 2030 ist noch nicht bekannt, obwohl diese/r ein wichtiges Mitglied der Schweizer Delegation am Hochrangigen Politischen Forum für nachhaltige Entwicklung der UNO im kommenden Juli in New York wäre. Dort stellt die Schweiz den Länderbericht vor. Weiter nennt der Bundesrat die Begleitgruppe Agenda 2030 als wichtiges Gremium, das den Austausch des Bundes zur Umsetzung der SDGs mit nicht-staatlichen Akteuren garantieren soll (Wirtschaft, Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Jugend). Zwischen dem Bund und der Gruppe, in der auch Alliance Sud Einsitz hat, hat sich aber auch Jahre nach ihrer Gründung keine Zusammenarbeit etabliert, in der die Gruppe jene Rolle wahrnehmen könnte, die der Bundesrat ihr gemäss dem Länderbericht zugedacht hat. Auf die Ausgestaltung und den Inhalt des Länderberichts hatte die Gruppe entsprechend nur einen äusserst geringen Einfluss – das ist in anderen europäischen Ländern ganz anders.
Bund sollte die Zivilgesellschaft ernst nehmen
Dies alles zeigt: Die Agenda 2030 geniesst innerhalb des Bundes keine Priorität. «Zur Halbzeit hat die Schweiz der Welt keine konkreten Resultate anzubieten und sie kann nicht zeigen, wie sie zur weltweiten Erreichung der Ziele durch konkrete politische Reformen beiträgt», sagt Gross. Es bleiben noch acht Jahre, um dies zu ändern. Allein wird das der Bund allerdings nicht mehr schaffen. Bundesrat und Parlament sollten deshalb schnell dafür sorgen, dass auch die Wissenschaft und die Zivilgesellschaft substanziell und verbindlich in die Umsetzung der Agenda 2030 des Bundes miteinbezogen werden. Selbst leisten sie dafür bereits sehr viel – unter anderem mit der Plattform Agenda 2030.
Weitere Informationen:
Andreas Missbach, Geschäftsleiter Alliance Sud, Tel. 079 847 86 48, andreas.missbach@alliancesud.ch
Dominik Gross, Verantwortlicher Agenda 2030 und Experte für internationale Finanz- und Steuerpolitik bei Alliance Sud, Tel. 078 838 40 79, dominik.gross@alliancesud.ch