Informationen sind überall. Im Internet, auf Social Media, im Fernsehen, im Radio und natürlich in den Zeitungen. Was aber, wenn über wichtige Entwicklungen in Regionen, in denen rund 85 Prozent der Weltbevölkerung leben, kaum oder gar nicht berichtet wird? Dann ist die Berichterstattung unvollständig und hinterlässt Wissenslücken, Verständnislücken. Besteht diese Gefahr in der Schweiz? Eine Spurensuche.
Medien beschreiben und ordnen das Weltgeschehen ein. Sie bestimmen massgeblich mit, worüber wir reden und nachdenken. Sie beeinflussen damit auch, welche Themen auf der politischen Agenda stehen.
In der Schweiz ist die Tagesschau von SRF mit Abstand die reichweitenstärkste Nachrichtensendung und für viele Schweizer:innen nach wie vor eine zentrale Informationsquelle. Es ist also wichtig, dass die Tagesschau das ganze Bild des Weltgeschehens zeigt. In der im letzten Jahr veröffentlichten Studie «Das Wichtigste des Tages ohne den Globalen Süden?» stellt Dr. Ladislaus Ludeschwer von der Goethe-Universität Frankfurt allerdings ein klares Muster fest: Die Schweiz und der Globale Norden dominieren mit rund 90 Prozent die Sendezeit. Nur etwa zehn Prozent der Sendezeit sind dem Globalen Süden gewidmet, obwohl dort der Grossteil der Weltbevölkerung lebt (etwa 85 Prozent).
Die Dominanz des Globalen Nordens in der wichtigsten TV-Nachrichtensendung der Schweiz ist gemäss dem Germanisten und Historiker «erschütternd erdrückend». Während zum Beispiel 2022 der Krieg in der Ukraine mit durchschnittlich fünf Minuten pro Sendung die Auslandsberichterstattung dominierte, widmete die Tagesschau über sämtliche Sendungen des Jahres dem Krieg in der äthiopischen Region Tigray gerade einmal 150 Sekunden. Über die gemäss UNO «weltweit schlimmste humanitäre Krise» im Jemen wurde kein einziges Mal berichtet.
Einschneidende Sparmassnahmen
Das mag vielfältige Gründe haben. Kriege, humanitäre Krisen und Klimakatastrophen haben zugenommen und «konkurrieren» um die knappe Sendezeit. Je näher ein Ereignis – kulturell oder geografisch –, desto grösser die Chance, dass Journalist:innen es aufnehmen. Hinzu kommen einschneidende Sparmassnahmen der grossen Medienhäuser, bedingt durch die Verlagerung von Werbung hin zu den grossen internationalen Techplattformen, aber auch eine sinkende Zahlungsbereitschaft seitens Medienkonsumierenden (Stichwort Gratismentalität), was die Themenvielfalt und auch die Qualität der Berichterstattung beeinflusst.
Während SRF vor acht Jahren über rund 60 Auslandskorrespondent:innen verfügte, sind es heute nur noch 40. Auch Tamedia (die u.a. den Tages-Anzeiger rausgibt), CH-Media (Watson, Aargauer Zeitung, Schweiz am Wochenende u.v.m.), die NZZ und andere Mediengruppen haben in den letzten Jahren zahlreiche Stellen im In- und Ausland abgebaut und Sparrunde um Sparrunde durchgeführt. Doch, um die oft vielschichtigen Ereignisse zu analysieren, für uns einzuordnen und allenfalls auch zu kommentieren – und bestenfalls in einen globalen Zusammenhang zu setzen – braucht es professionell ausgebildete, kompetente und erfahrene Auslandskorrespondent:innen. Soziale Medien, wo jede und jeder über das Geschehen im Ausland berichten kann, sind jedenfalls kein Ersatz für seriösen und qualitativ hochstehenden Auslandsjournalismus.
Schwindendes Interesse
Eine weitere Herausforderung kommt hinzu: In der Schweizer Bevölkerung sind im längerfristigen Vergleich sowohl die Nutzung als auch das Interesse an Nachrichten zurückgegangen. Laut dem Reuters Institute Digital News Report 2024 vermeiden rund ein Drittel der Schweizer:innen «oft oder manchmal Nachrichten». Die grosse Mehrheit dieser sogenannten «News-Avoider», darunter mehrheitlich Frauen, gibt an, sich durch die grosse Flut von (negativen) Nachrichten erschöpft zu fühlen. Laut der Studie sieht ausserdem nur eine Minderheit ihre Erwartung erfüllt, dass Medien Hoffnung geben.
Konstruktiver Journalismus, der nicht allein auf negative Berichterstattung setzt, sondern den Medienkonsumierenden Orientierung bietet, Lösungswege skizziert und Perspektiven und Hoffnungen aufzeigt, wäre laut der Studie eine hilfreiche Gegenmassnahme. Dessen Potenzial sei jedenfalls bei weitem noch nicht ausgeschöpft.
Vergessene Krisen
Eine kürzlich veröffentlichte Liste der norwegischen Flüchtlingshilfe mit den zehn politisch, medial und finanziell am stärksten vernachlässigten Krisen, ist erschütternd. Alle aufgeführten Krisen sind langwierig und beeinträchtigen das Leben von Millionen von Menschen seit Jahren. Obwohl die UNO, die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) und Entwicklungsorganisationen (auch «Hilfswerke» genannt) dazu aktuelle und umfassende Informationen aufbereiten, werden viele der Krisen von gängigen Medien nicht oder nicht ausreichend thematisiert – sie bleiben im politischen Betrieb unterbelichtet und erscheinen so auch nicht auf dem Radar von potenziellen Geldgebern für Hilfeleistungen und Lösungssuche. Mangels Kenntnis von Umständen und Zusammenhängen ist es in der Folge für die Menschen schwierig, sich zu solidarisieren.
Die mangelnde Aufmerksamkeit (und Solidarisierung) für Menschen in «vergessenen Krisen» hat Folgen – auch in der Schweiz. So will der Bundesrat den Wiederaufbau der Ukraine in den nächsten vier Jahren mit einer Milliarde Franken aus dem Budget der Internationalen Zusammenarbeit (auch «Entwicklungshilfe» genannt) finanzieren. Weitere 500 Millionen Franken aus demselben Budget sollen direkt Schweizer Unternehmen zugutekommen, die in der Ukraine tätig sind. Insgesamt sind beinahe 15 Prozent des Entwicklungshilfe-Budgets für die Ukraine vorgesehen. Der Ständerat will die Internationale Zusammenarbeit der Schweiz insgesamt sogar um fast einen Drittel kürzen – und das eingesparte Geld für Kampfpanzer, Drohnen und Kanonen verwenden anstatt für die weltweite Armutsbekämpfung, friedensfördernde Massnahmen und die Bekämpfung des globalen Klimawandels.
Lichtblicke aus dem Globalen Süden
Trotz den gegenwärtigen Entwicklungen in der Medienwelt findet es die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung laut einer Studie der Universität Zürich wichtig, über das aktuelle Geschehen informiert zu sein. 49% der befragten Personen geben an, dass ihnen lösungsorientierte und Hoffnung stiftende Perspektiven wichtig sind. Daher lohnt ein Blick in Magazine und Medienseiten wie «Solidarität», «Partnerschaft», «Positive News», «Heidi.News» oder das «Enorm-Magazin», die einen Einblick in die Arbeit verschiedener Entwicklungsorganisationen und NGOs geben, Lebenswelten von Menschen im Globalen Süden näherbringen und Lösungsansätze aufzeigen. Zentral bleibt unabhängiger Journalismus, der aufdeckt, erklärt und grössere Zusammenhänge aufzeigt. Damit dieser weiterhin möglich ist, braucht es finanziellen und ideellen Rückhalt aus der Politik. Und mit unserer Bezahlbereitschaft für eine derart wichtige Leistung, wie sie Journalist:innen Tag für Tag erbringen, können wir alle etwas bewegen.
*Rukiyye Besler hat einen Bachelor in Kommunikation und ist Hochschulpraktikantin für Medienarbeit bei Helvetas.