«Kommt, lasst uns erst einmal Tee trinken», sagt Quyên, kaum haben wir das Gepäck in unserem mit goldenen Vorhängen abgetrennten Schlafbereich verstaut. Wir setzen uns um einen niedrigen Holztisch. Es ist eine gemütliche Nische in diesem schlichten traditionellen Haus, das aus einem einzigen Wohnraum besteht. Hier lebt unsere Gastfamilie und hier beherbergt sie auch uns Reisegäste. Quyên spült die Teeschalen mit heissem Wasser aus und giesst aus einem kleinen Keramikkrug eine klare gelbliche Flüssigkeit ein.
Der Tee wächst hier auf Bäumen, nur ein kleines Stück weiter oben am Hang. Die meisten Familien im Dorf würden Tee für die nahegelegene Manufaktur pflücken, erklärt uns Quyên. Während wir in aller Ruhe den milden, leicht süsslichen Shan-Tuyet-Tee kosten, herrscht im separaten Küchengebäude hinter dem Haus geschäftiges Treiben. Quyêns Frau Liêu bereitet das Abendessen vor. Verwandte und Nachbarinnen bringen Getränke und Knabbereien, frisches Gemüse und Früchte. Heute gibt es ein Festessen, und alle helfen mit. «Wir bereiten die Geburtstagsfeier unserer Tochter Trà My vor», erklärt Quyên. «Sie ist heute acht geworden.»
Familienunternehmen im wahrsten Sinne
Der 28-jährige Mênh Quyên und seine ein Jahr ältere Frau Mùi Liêu haben ihr Haus frisch renoviert. Seit August 2017 öffnet das Paar die Tür ihres Daheims Gästen aus der Stadt und aus aller Welt. Wie andere Familien im Dorf, das zur Gemeinde Tong Nguyen im nordvietnamesischen Hochland gehört, haben sie schon früher Trekkingtouristen bei sich übernachten lassen. Organisiert wurden diese Gruppentouren jeweils von auswärtigen Reiseanbietern, die den Profit einstrichen und die lokalen Gastgeber mit einem Trinkgeld abspeisten. Sie hätten schon immer gern Gäste aufgenommen, sagt Quyên. «Gastfreundschaft ist bei uns Roten Dao selbstverständlich.»
Doch sie hatten keine Ahnung, warum die Touristen ihre Gegend besuchen und welche Erwartungen und Bedürfnisse sie haben. Ihr Haus war bescheiden. Die Gäste quartierten sie unter dem Dach ein, wo sie auch Reis, Saatgut und Gerätschaften aufbewahren. Gekocht wurde auf offenem Feuer im Haus. Die Besucher mussten mit einem Plumpsklo und kaltem Wasser vorliebnehmen. Das Konzept «Tourismus» war den Roten Dao kaum bekannt. Noch weniger, dass sie dank sanftem Tourismus ein Auskommen finden können, ohne ihre Dörfer verlassen zu müssen, und gleichzeitig ihr kulturelles Erbe pflegen.
Das änderte sich, als Helvetas und die vietnamesische Partnerorganisation CRED 2016 ein Gemeindetourismusprojekt initiierten, das auf den positiven Erfahrungen eines ähnlichen Projekts von Helvetas in Kirgistan aufbaut. Dort haben Hunderte Familien touristische Angebote entwickelt und sind zu Kleinunternehmern geworden. Sie haben sich zu einem starken Verband zusammengeschlossen, der heute selbständig und selbsttragend ist. Die Übernachtungsmöglichkeiten, Reitausflüge und Jurtenaufenthalte sind über eine Internetplattform direkt buchbar – und bringen den Bauernfamilien ein wichtiges Zusatzeinkommen.
In Vietnam unterstützt Helvetas sieben Dorfgemeinschaften, ebenfalls ein Tourismusangebot auf die Beine zu stellen, das der ganzen Bevölkerung zugutekommt. Die an der Grenze zu China gelegene Berg-Provinz Ha Giang gehört zu den ärmsten des Landes. Die meisten Menschen sind Angehörige ethnischer Minderheiten. Sie ernähren sich von dem, was sie anbauen. Aus dem Verkauf von Überschüssen und handwerklichen Produkten sowie mit Gelegenheitsarbeiten erzielen sie ein bescheidenes Einkommen. Ein sanfter, umweltschonender und sozial gestalteter Tourismus ermöglicht den Dorfgemeinschaften eine selbstbestimmte Entwicklung.
Gastgeber mit Herz und Know-how
Anfangs war Quyên skeptisch. Er hatte Bedenken, ob genug Reisende kommen und die Renovation des Hauses und die Anschaffung von Matratzen, Bettdecken, Vorhängen und Moskitonetzen sich auszahlen würden. Als er sah, dass sein Nachbar Kinh mit seinem Homestay Erfolg hatte, wurde er neugierig. Immer häufiger trafen kleine Reisegruppen ein, und Kinh konnte ihnen nicht nur eine Unterkunft, sondern auch Mahlzeiten und seine Dienste als Wanderführer anbieten.
Da beschlossen Quyên und Liêu, den Schritt ebenfalls zu wagen. Dem Projekt gingen sorgfältige Abklärungen voraus. Das Projektteam lud Tourismusfachleute und Reiseveranstalter aus Hanoi und anderen Gegenden ein, um das Potential der Region einzuschätzen. Diese überprüften, ob sich die Häuser der Familien als Unterkünfte eignen, und erarbeiteten mit Delegierten aus den verschiedenen Dörfern Vorschläge für Rundreisen und Aktivitäten. «Sie waren sofort überzeugt, dass unsere Gegend attraktiv ist», erzählt Quyên nicht ohne Stolz. «Nicht nur wegen der schönen Landschaft, vor allem auch wegen unserer Kultur.» Sein Haus eigne sich besonders, weil es gut zugänglich und im traditionellen Dao-Stil gebaut sei. Und weil man eine tolle Aussicht auf die berühmten Reisterrassen der Gegend habe.
Positive Erfahrungen eines bereits touristisch aktiven Dorfes in der Nachbarprovinz überzeugten Quyên und Liêu vollends. Im Austausch erfuhr eine Delegation aus Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohnern, dass sich mit Tourismus ein gutes Einkommen erzielen lässt. Sie erörterten auch mögliche negativen Folgen, die unbedachter Tourismus mit sich bringen kann, und wie sie ihr Dorf schützen. Wichtig ist die gemeinschaftliche Organisation des Tourismusangebots. Aber auch das traditionelle Rechtssystem würde es ihnen erlauben, bei Problemen direkt zu reagieren.
Im Homestay-Management-Kurs erfuhren Quyên und Liêu, welche Ausstattung und Dienstleistungen Reiseanbieter und Gäste erwarten. Sie hätten auch gelernt, wie sie Investitionen und deren Abschreibung berechnen, wie sie Einnahmen kalkulieren und einen Business-Plan erstellen müssen, erklärt uns unser Gastgeber.
Der Pionier lebt es vor
Quyên steht auf; er möchte sich an den Vorbereitungen für die Geburtstagsfeier seiner Tochter beteiligen. «Der Nachbar geht Fisch fangen fürs Abendessen. Wenn ihr Lust habt, könnt ihr ihn begleiten», schlägt er vor. Im Fischteich von Mênh Kinhs Familie spannen Kinh und seine Helfer ein Netz auf. Zwei Männer treiben mit Bambusstangen die Fische in ihre Richtung. Die Karpfen werden in den gefluteten Reisfeldern gehalten, doch vor der Ernte, wenn das Wasser abgelassen wird, kommen sie in Teiche bei den Häusern. Gäste können beim Fischfang, beim Reisanbau, bei der Ernte oder beim Teepflücken mitmachen oder bei gemeinschaftlichen Bauarbeiten helfen.
«So tauchen sie ins Leben bei uns ein», erklärt Kinh. Der 31-Jährige ist für viele hier ein Vorbild; er gilt im Dorf als Tourismus-Pionier. Kinh arbeitete früher als Hilfskoch und als Träger auf Trekkingtouren. Später absolvierte er eine Tourismus-Kurzausbildung, fest entschlossen, irgendwann selbst Gäste zu beherbergen. Als Kinh vom Gemeindetourismus-Projekt erfuhr, war er Feuer und Flamme. Er schlug Wanderrouten und Aktivitäten vor und half bei der Suche nach anderen Gastgeberfamilien. Mittlerweile haben er und seine Frau Mùi Coi mit einem zinslosen Darlehen aus dem Projektfonds und von Verwandten und Freunden geliehenem Geld ihr Haus für Gäste hergerichtet und um ein weiteres Gebäude und eine Veranda erweitert, die als Restaurant dient.
Umwelt und Kultur Sorge tragen
Für Kinh und Coi läuft es gut. 300 Reisende sind im ersten Jahr zu ihnen gekommen, und die Zahlen Generatisteigen. Der passionierte Gastgeber, der auch auf Social Media wirbt, blickt optimistisch in die Zukunft. Er ist sich indes bewusst, dass ein Gasthaus allein noch keine Reisenden anzieht. «Die Gäste kommen, weil es hier schön ist. Darum müssen wir uns alle anstrengen, dass es so bleibt. Wir müssen Sorge zur Umgebung tragen, die Reisterrassen, unseren traditionellen Baustil, unsere Lebensweise und Bräuche beibehalten.» Damit das so bleibt, engagiert er sich im Gemeindetourismusrat und präsidiert die lokale Tourismusgenossenschaft. Diese sorgt auch dafür, dass alle teilnehmenden Familien ausgewogen ausgelastet sind.
Wie ihr Nachbar Kinh haben auch unsere Gastgeber Liêu und Quyên ihr Haus umgebaut. Sie erhöhten den Wohnraum, indem sie die Holzstützen des Hauses auf Sockel hoben und die Aussenwände untermauerten. Dank einem festen Fussboden sei jetzt alles viel einfacher sauber zu halten, sagen sie. Auch sie selber schlafen heute auf bequemen Matratzen und Decken – und benutzen natürlich die neuen Toiletten und Duschen mit Elektroboiler. «Ich fühle mich jetzt richtig wohl in meinem Zuhause», sagt Liêu. Nun, wo sie verstehe, welche Bedürfnisse die Reisenden haben und wie man einen Homestay betreibt, sei die Unsicherheit im Umgang mit den Gästen verschwunden.
Liêu und Quyên arbeiten bei allem Hand in Hand. Liêu richtet normalerweise die Schlafplätze ein und empfängt die Gäste, ihr Mann kauft ein und kocht. Oft bereiten die Familien im Dorf gemeinsam Mahlzeiten zu. Sie haben in einem Kochkurs gelernt, abwechslungsreiche Menüs zusammenzustellen und die Mengen richtig zu berechnen.
Eine Zukunft für die Jungen
Neben ausländischen Gästen finden viele Einheimische aus städtischen Regionen den Weg in die Dörfer. Sie möchten das Leben auf dem Land und die Kultur von Minderheiten kennenlernen. Beides ist für Gäste aus vietnamesischen Städten oft ebenso weit weg wie für Reisende aus dem Ausland. So stärkt das Projekt auch die Stadt-Land-Beziehungen.
Quyên teilt sein Wissen gerne mit Fremden – dank einem Englischkurs auch mit ausländischen Reisenden. «Das ist ein wenig wie selbst reisen», sagt er. So habe er viel über sein eigenes Land erfahren und über Länder, die er wohl nie besuchen werde. Erst dadurch sei ihm beispielsweise klar geworden, wie sehr die naturnahe, pestizidfreie Produktion von Lebensmitteln geschätzt werde, die bei ihnen selbstverständlich sei. Er habe zudem realisiert, dass andere sich für ihre Kultur interessieren: «Dadurch wurde uns unsere Identität, der Wert unserer Tradition, wieder bewusst. Wir dürfen sie nicht leichtfertig aufgeben.»
Mùi Liêu, Homestay-Betreiberin, Vietnam
Mit dem Projekt sind denn auch Zukunftshoffnungen verbunden. Darauf, dass die junge Generation weitere Angebote entwickelt. Geführte Wandertouren und Dorfrundgänge. Motorradtaxi- und Trägerdienste. Oder den Verkauf von lokalem Honig und selbstgefertigten Textilien. «Dann müssten die Jungen das Dorf nicht verlassen, um Arbeit zu finden», ist Quyên überzeugt. Auch die Gemeinschaft profitiert vom sanften Tourismus: Ein Prozentsatz aus den gemeinsam festgelegten Übernachtungspreisen fliesst in einen Fonds für die Dorfentwicklung und soziale Projekte.
Quyên sieht noch einen anderen Vorteil: Wenn die Nachfrage nach Nahrungsmitteln in den Dörfern steigt, müssen die Bauernfamilien ihre Ernte nicht mehr auf entfernte Märkte bringen. Sie können lokale Homestays und Restaurants beliefern. Dann braucht es hier auch in Zukunft keine Fabriken und die Leute müssen nicht abwandern. Er hofft, dass seine eigenen Eltern, die sich auf einer Plantage weit weg verdingen, bald zu ihnen heimkehren und mitarbeiten können. «Wir finden es gut, wenn unsere Tochter in der Stadt studiert und Fremdsprachen lernt. Aber danach findet sie hoffentlich zuhause eine Zukunft», fügt seine Frau an.
Fest und Alltag teilen
Das Haus hat sich mittlerweile mit Nachbarn und Verwandten gefüllt, die den Geburtstag von Trà My feiern möchten. Dicht stehen die Tische und Stühle. Unzählige Schüsseln und Schälchen werden aufgetragen: Suppe, Reis und Gemüse, Ente, Huhn und Fisch. Die Kinder versammeln sich auf einer Decke auf dem Fussboden. Für sie gibt es zur Feier des Tages auch Knabbereien und Limonade. Dann singen sie für das Geburtstagskind «Happy Birthday», auf Englisch. Wir Homestay-Gäste sitzen am Tisch des Gastgeberpaars, mittendrin im Familien- und Dorfleben.
Eifrig suchen Liêu, Quyên und die Tischnachbarn besonders feine Häppchen aus und legen sie in unsere Essschalen. Nach dem Essen wechseln die Gäste die Tische und halten mal hier, mal da ein fröhliches Schwätzchen. Immer wieder kommt jemand an unseren Tisch und versucht, ein paar Worte mit uns zu wechseln. Wie es bei den Roten Dao Tradition ist, stossen wir mit jedem von ihnen mit unserem Reiswein an. «Chúc sức khoẻ» – auf unser aller Gesundheit!