Aus der Ferne sieht der Gemeinschaftsgarten winzig aus, denn das Gelände, auf dem Kartoffeln, Krautstiel, Broccoli, Rüebli und Tomaten wachsen, ist riesig gross. Im Stadtplan von Sucre ist hier eine Grünfläche eingetragen. Doch die Realität sieht anders aus: Der Boden ist staubtrocken, Abfall häuft sich da und dort, Plastik wird vom Wind verweht. Einzig dieser Gemeinschaftsgarten ist eine kleine Oase. Nicht nur für die Augen der Anwohner:innen und Durchreisenden, auch für die Familien, die dank ihm nicht vor leeren Tellern sitzen. Und ebenso für die Wasserreserven Sucres, einer Stadt mit rund 300’000 Einwohner:innen.
Der «Huerto urbano», der Gemeinschaftsgarten, entstand aus der Not heraus während der Coronapandemie. Die Stadtregierung hatte Helvetas gebeten, etwas für die Ernährungssicherheit zu tun. Die Idee von Nachbarschaftsgärten begeisterte: Die Stadt stellte öffentlichen Grund zur Verfügung und versprach, das notwendige Wasser zu liefern, Helvetas besorgte schattenspendende Netze, die zugleich vor Tieren schützen, Giesskannen und Harken, Saatgut und Setzlinge und führte Schulungen für den Gemüseanbau durch.
Hier, im Districto III von Sucre, leben vor allem Zugezogene vom Land; Einkommensmöglichkeiten gibt es kaum. Für Zenobia Yucra ist der kleine «Pflanzblätz» überlebenswichtig. Die 31-Jährige kam vor wenigen Jahren aus dem Hochland nach Sucre für ihre Ausbildung als Krankenpflegerin. Während der Pandemie arbeitete sie Tag und Nacht, immer mit Kurzzeitverträgen ohne soziale Absicherung – sechs Monate lang sogar ohne Lohn. «Ich konnte die Menschen doch nicht einfach sterben lassen», sagt sie. Als der Spitaldirektor wechselte, verloren sie und viele ihrer Mitstreiterinnen ihre Stelle, eine neue hat sie – auch aufgrund ihrer Schwangerschaft – nicht gefunden. «Der Garten hilft mir sehr. Ich kann gesund essen», was vor allem wichtig sei, weil sie ihre Tochter Zoe stille. Im Moment schläft Zoe selig im Umhängetuch; die Sorgen ihrer Mutter und der Welt kennt sie noch nicht.
Heute – die Coronapandemie wirft zwar noch Schatten, aber die Einschränkungen sind Geschichte – hat der kleine Nachbarschaftsgarten im Districto III weitab des betriebsamen Stadtlebens in Sucre eine wichtige Pionierfunktion.
Anny Vargas, Stadtplanerin von Sucre
Ein Labor der besonderen Art
70 Prozent der bolivianischen Bevölkerung lebt inzwischen in und rund um städtische Zentren. Um die oft historischen Stadtkerne und Aussenbezirke entstehen neue Siedlungen, irregulär, nicht angeschlossen an Infrastrukturen wie Wasserversorgung und Kanalisation, ohne Schulen und Gesundheitsversorgung. Um der prekären Situation der Zugezogenen und dem wachsenden Druck auf öffentliche Dienstleistungen zu begegnen, will Bolivien die integrale Stadtentwicklung vorantreiben und die Folgen des Klimawandels mitdenken. Helvetas, in Sucre bestens vernetzt, bot der Stadtregierung ihre Unterstützung an.
Denn Verstädterung ist eine Katastrophe für den Boden, der wegen der hohen Bautätigkeit stetig verdichtet wird, so dass Wasser kaum mehr versickern kann, wenn es regnet. Dabei ist die Stadt auf Regen angewiesen – Regen, der die Grundwasserreserven speist, aus denen sich Sucre versorgt. Regen, der wegen der Klimaerhitzung aber seltener wird oder manchmal so heftig fällt, dass das wertvolle Nass ungenutzt abfliesst, weil der Boden undurchlässig ist. Die Antwort des Bürgermeisters auf den Vorschlag von Helvetas, nach naturbasierten Lösungen für dieses Problem zu suchen, lautete sinngemäss: Sucre ist euer Labor!
Naturbasierte Lösungen? Die Europäische Kommission definiert sie als «Lösungen, die von der Natur inspiriert und unterstützt werden, die kosteneffizient sind, gleichzeitig ökologische, soziale und wirtschaftliche Vorteile bieten und zur Stärkung der Widerstandsfähigkeit beitragen». Und hier kommt der kleine Gemeinschaftsgarten im Districto III von Sucre wieder ins Spiel: Gärten machen den Boden durchlässig.
Für Gärten auf öffentlichem Grund brauchte es jedoch ein Gesetz. Helvetas begleitete den notwendigen politischen Prozess. Im Dezember 2023 verabschiedete das Parlament Sucres ein solches. Bedingung ist, dass das Gemüse zum Eigenkonsum angebaut und nicht verkauft wird. So darf nun auf «Areas verdes», Grünflächen, die in der Stadtplanung als solche auswiesen sind, das Anlegen von Gemeinschaftsgärten beantragt werden.
Resiliente Städte brauchen Daten
Das Projekt für resiliente Städte in Bolivien umfasst neben Sucre auch die Stadt Tarija und deckt weitere Aspekte ab: So hat Helvetas eine Beobachtungsstelle mitunterstützt, in der sich Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zusammengeschlossen haben, um Daten über und für Sucre zu erheben. Nur so können Stadtplanerinnen, Forschende und Privatsektor gemeinsam Massnahmen für sichere, prosperierende, umweltfreundliche Städte entwickeln. «Wir müssen immer wieder erklären, was der Klimawandel ist», erklärt die Projektverantwortliche Beatriz Lizarazu. «Dass er nicht nur ein Thema von Umweltschützer:innen ist, sondern auch eines der Regierung und Bevölkerung sein muss. Eine klimaresiliente Stadt befasst sich mit der Gesundheit, dem Verkehr, der Versorgung, der Ernährungssicherheit etc. Der Bürgermeister fordert von seinen Leuten ständig neue Projekte. Aber diese Leute sind Bauingenieure, sie haben Zement im Blut. Sie müssen noch lernen, worum es bei den naturbasierten Lösungen geht. Wir müssen allen Beteiligten die Klimawandelbrille aufsetzen – vom Bürgermeister bis zur Marktfrau.» Das Helvetas-Projekt wird mit Mitteln aus dem Helvetas-«Moving Governance»-Programm und dem Deza-Programmbeitrag sowie von Stiftungen finanziert.
Den öffentlichen Raum zurückerobern
Die Gärten sind ein Teilchen eines riesigen Puzzles von nötigen Veränderungen, um Sucre klimaresilient, sozial und sicher zu machen. Doch Veränderungen haben nur Bestand, wenn die Bevölkerung sie sich zu eigen macht – und machen kann. Helvetas wollte darum von den Bewohner:innen der Stadt und des Umlands hören, wie sie die Stadt angesichts von täglichem Verkehrschaos, Umweltverschmutzung und Klimawandel verändern möchten, und lancierte dafür einen «Ideathon», einen Marathon der Ideen.
Dabei entstand zum Beispiel in einem Aussenquartier aus einer Abfallhalde ein kleiner Park, wo Kinder spielen können und den sogar Kolibris aufsuchen, weil dort bewusst für sie Pflanzen angebaut wurden. «Früher haben wir uns nicht so oft gesehen. Wo denn auch? Jetzt haben wir einen Ort zum Schwatzen», erzählt Justa Felipe, die in der Nähe wohnt. Es kämen Freunde und Fremde vorbei und verliebten sich in die Schönheit der Plaza Jardin. Auch er ist ein Teil des riesigen Puzzles und soll andere Quartiere inspirieren. Drei junge Architekturstudentinnen entwickelten Kuben aus Massivholz. Wie alle Ideathon-Gewinnerprojekte erhielten die jungen Frauen finanzielle und fachliche Unterstützung, recherchierten, sprachen mit Leuten auf der Strasse über ihre Wünsche für den öffentlichen Raum, entwickelten Prototypen – und überzeugten sogar den Bürgermeister.
Heute werden jeden Sonntag Dutzende dieser Kuben zum Hauptplatz gebracht. Sie dienen als Bühnenelemente oder Hocker. Die Bevölkerung erobert sich damit den öffentlichen Raum im Stadtzentrum zurück, denn einmal die Woche ist die Innenstadt rund um die Plaza 25 de Mayo autofrei, um die Luftverschmutzung zu verringern. Bands spielen auf, Theater werden aufgeführt, es wird zum Tanz geladen, Kinder spielen Fussball, Jung und Alt trifft sich. «Früher sassen die Leute in einer Reihe auf den fixen Bänken. Es war nicht einfach, miteinander zu reden», erzählt eine junge Frau im Lärm einer Rockband. «Jetzt können wir im Kreis sitzen und richtig miteinander plaudern. Das ist schön.»
Zu den «Cubos» gehören Sonnenschirme, Pflanzen und Abfallbehälter. Früher habe es jedes Mal Geld gekostet, die Infrastruktur für den Platz zu mieten, erzählt Gabriela Sahonero, die Kulturverantwortliche der Stadt. Dank der Einsparungen durch die «Cubos» und Helvetas’ Unterstützung könne die Stadt nun mehr Aktivitäten unterstützen, vor allem kulturelle. «Die Kultur vermittelt den Menschen ein gutes Gefühl, ein Gefühl des Glücks, das sie nach Hause nehmen. So wird die Bevölkerung widerstandsfähiger», sagt sie.
Durch Kultur könne die Stadt auch für die Gleichberechtigung der Geschlechter werben. «Wir können Themen wie Gewalt jeglicher Form ansprechen und bekämpfen. Kultur ist Bildung. Kultur stärkt die eigene Identität.» Die jungen Menschen fragten sich oft, wer sie seien in dieser globalen Welt. «Indem wir ihre kulturelle Identität stärken, stärken wir sie für die Zukunft», redet sich Gabriela Sahonero ins Feuer. All diese Veränderungen geschähen sonntags ungezwungen und beiläufig.
Der Weg ist noch weit
2025 begeht Bolivien die Zweihundertjahrfeierlichkeiten seiner Unabhängigkeit. Gastgeberin ist die Stadt Sucre und diese hat Grosses vor: Sie will einen rund 30 Kilometer langen Abschnitt des Flusses begrünen, der durch die Stadt fliesst. Dieses Vorhaben, der «Corredor ecologico del Bicentenario», soll die Stadtbewohner:innen für Bewegung, die Natur und die Artenvielfalt begeistern und Bolivien zeigen, wie wichtig Natur im städtischen Umfeld ist. Unter anderem sind eine «Voie verte», ein Veloweg auf einer stillgelegten Eisenbahntrasse, geplant, Pavillons für Kulturanlässe und Pärke zum Verweilen. Finanziert wird das Vorhaben von der Interamerikanischen Entwicklungsbank, die Idee stammt aber von Helvetas, denn ein geschützter und gepflegter Flusslauf ist eine naturbasierte Lösung und ein wichtiger Schritt hin zu einer klimaresilienteren Stadt.
«Helvetas hat uns gesagt, wir müssen die Stadt neu denken angesichts des Klimawandels. Daraus entstand die Idee des Corredors», erzählt Anny Vargas, Stadt- und Raumplanerin von Sucre, bei einer Stadtführung. Oft, sehr oft, spricht sie von Plänen und Ideen, die wegen fehlender Mittel auf die lange Bank geschoben werden mussten. Denn die Landesregierung hat den Gemeinden jüngst drei Viertel der Mittel gekürzt. Und trotzdem gibt die Stadt nicht auf, sich naturnah neu zu erfinden.
Helvetas unterstützt und schult die Behörden bei der ständigen Suche nach möglichen Massnahmen für eine lebenswerte Stadt. «Wir von der Verwaltung planen die Stadt. Wir brauchen dieses Wissen», sagt Anny Vargas. «Es ist hier wie überall: Die Bedürfnisse ändern sich mit dem Wachstum, und wir fragen uns, wie wir neu auftauchenden Problemen begegnen sollen. Und was für eine Stadt wir uns wünschen.»
Der Ideathon sei daher genau das Richtige gewesen. «Im Alltag, in deiner eigenen Welt, siehst du nicht alles», reflektiert sie. «Wenn du die Bevölkerung triffst, merkst du, dass es noch andere Probleme gibt in der Stadt, die du gar nicht auf dem Radar hattest. Wir müssen alle Projekte – jetzt und in Zukunft – mit der Bevölkerung planen. Nur so macht sie auch mit. Das ist entscheidend. Es geht ja nicht nur um die Velowege, es geht um den Abfall, um das Wasser. Es geht darum, wie wir miteinander und mit der Stadt umgehen.»
In fünf Jahren, so ihre Vision, ist Sucre grüner und hat mehr Erholungsraum. «Wir müssen den Leuten verständlich machen, dass das Ganze kein Regierungsprojekt ist, sondern das ihrige. Sie leben hier. Sie werden die Veränderungen sehen.» Und in zehn Jahren? «In zehn Jahren wird Sucre eine inklusivere Stadt sein, eine sicherere Stadt, wo sich besonders Frauen und Kinder ohne Gefahr, in Sicherheit bewegen können.»
Kontext in Bolivien: Armut trotz Reichtum
Bolivien ist inzwischen ein Land mit mittlerem Einkommen, deshalb hat die Schweiz ihre bilaterale Entwicklungszusammenarbeit, wie auf dem ganzen Kontinent, eingestellt. Doch die Schere zwischen Reich und Arm, zwischen faire Chancen haben oder nicht, bleibt relevant. Laut Uno werden bis 2025 drei Viertel der Bevölkerung in Städten leben – wegen der Folgen des Klimawandels und in der Hoffnung auf bessere Arbeits- und Bildungsmöglichkeiten. Doch über 80% der Bolivianer:innen sind im informellen Sektor beschäftigt ohne jegliche Absicherung. Die Schattenwirtschaft macht 55% des Bruttoinlandproduktes aus, was bedeutet, dass über die Hälfte der «Wirtschaft» weder Steuern zahlt noch kontrolliert wird. Helvetas engagiert sich in Bolivien für Jungunternehmer:innen, für bessere Wasserversorgung und Abfallbewirtschaftung, aber auch im Waldschutz und der Agroforstwirtschaft.