© Keystone / AP Photo / Jose Luis Mangana

Keine nachhaltige Entwicklung ohne Entschuldung

Wohlhabende Länder und private Gläubiger stehen in der Verantwortung
VON: Patrik Berlinger - 25. November 2022
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Die Verschuldung ärmerer Länder hat ein schwindelerregendes Ausmass erreicht. Die Covid-Krise, steigende Nahrungsmittelpreise wegen des Kriegs in der Ukraine sowie immer höhere Klimaanpassungskosten sind Gründe dafür. Am G20-Gipfel wurde vereinbart, notleidende Staaten deutlich stärker zu unterstützen. Auch die Schweiz muss Hand bieten.

Die Ausgangslage für den jüngsten G20-Gipfel der Staats- und Regierungschefs der grössten Wirtschaftsnationen Mitte November auf Bali war schwierig: die schleppende Erholung nach der Corona-Pandemie, der brutale Angriffskrieg in der Ukraine, steigende Nahrungsmittel- und Energiepreise, unzureichende Erfolge in der internationalen Klimapolitik und geopolitische Spannungen. Im Zentrum der Gespräche standen der Umgang mit künftigen Pandemien, Chancen der digitalen Transformation sowie Fortschritte in Richtung nachhaltige Energiewende. 

Ebenfalls besprochen wurde die bedrohlich anwachsende Verschuldung der ärmsten Länder. Laut der UN-Organisation UNCTAD haben die Auslandsschulden der Entwicklungsländer mit 11,1 Billionen US-Dollar 2021 den höchsten jemals verzeichneten Stand erreicht. Die Schulden sind mehr als doppelt so hoch wie 2009 (4,1 Billionen) und über fünfmal so hoch wie 2000 (2,1 Billionen). Die Verschuldung ärmerer Länder erreichte 2021 mehr als 30 Prozent ihrer Wirtschaftskraft (BNE). 

Dass ärmere Länder Kredite für Investitionen in Strassen und Eisenbahnen, in Schulen und die Gesundheitsversorgung, in Dämme und Energieprojekte aufnehmen, ist nicht neu. Und dass Schulden manchen Regierungen gelegentlich über den Kopf wachsen können, zeigt die Geschichte der Schuldenkrise ärmerer Länder in den 1970er und 1980er Jahre. Unter der Führung von Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF) beschloss die internationale Staatengemeinschaft in den Jahren 1996 und 2005 zwei Entschuldungsinitiativen

Diese Bemühungen waren wichtig und sorgten bei den Regierungen der beteiligten Länder vorübergehend für Entspannung. Sie konnten jedoch die grundlegenden Probleme nicht nachhaltig beheben. So sind gegenwärtig wieder über 40 Prozent der von den Initiativen begünstigten Ländern überschuldet oder hochgradig davon bedroht – darunter Länder wie Äthiopien, Burundi, Gambia, Ghana, Kamerun, Kenia, Mosambik, Sierra Leone, Somalia, Sudan, Tadschikistan und Laos. 

Gründe für die hohe Verschuldung im Süden 

Für die gegenwärtige Verschlechterung der Schuldentragfähigkeit gibt es unterschiedliche Erklärungen, die teils ineinandergreifen: 

  • Die Covid-Krise liess in vielen ärmeren Ländern die Wirtschaft regelrecht einbrechen. Es gab Millionen Tote und massenhaft Jobverluste. Informelle und kleine Unternehmen litten Not. Die wachsenden finanziellen Probleme bei Haushalten, Unternehmen und Finanzinstitutionen verschärften auch die Situation der Regierungen. Staatliche Einnahmen fielen weg. Gleichwohl mussten kostspielige Massnahmen zur Pandemiebekämpfung und sozialen Sicherung sowie Kreditgarantien und wirtschaftliche Stützungsprogramme auf den Weg gebracht werden. Ohne die Aufnahme neuer Schulden ging das nicht. In der Folge nahm die Schuldenlast vieler Entwicklungsländer 2020 so stark zu wie seit Jahrzehnten nicht mehr. 
  • Weiter zugespitzt hat sich die Situation wegen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine. Aufgrund von Unterbrüchen bei den Lieferketten für Getreide und Dünger sowie im Zuge allgemeiner weltwirtschaftlicher Verwerfungen und geopolitischer Spannungen, sind die Preise für Lebensmittel und Kraftstoffe schlagartig angestiegen. Ärmere Länder trifft dies besonders hart. 
  • Hinzu kommt die Klimakrise: Bereits vor Jahren wurde im Rahmen der UNO vereinbart, dass wohlhabende Länder Ärmere darin unterstützen, eine sozial gerechte Energiewende einzuleiten (Mitigation) und sich an die verheerenden Klimafolgen anpassen zu können (Adaptation). Drei Viertel dieser durch Industrieländer wie die Schweiz bereit gestellten «internationalen Klimafinanzierung» wird nicht in Form von Zuschüssen (engl.: grants), sondern in Form von zinsvergünstigten und rückzahlbaren Krediten (engl.: loans) geleistet. Mit der Folge, dass sich ausgerechnet die Länder, die kaum etwas für den Klimawandel können, für die oft lebensnotwendige Anpassung zusätzlich bei reichen Staaten verschulden müssen. Derzeit wenden Länder des globalen Südens fünfmal mehr für die Schuldentilgung als zur Bekämpfung der negativen Folgen der Klimakrise auf – ein veritabler Skandal, den sich die Weltgemeinschaft eigentlich nicht leisten darf. 

Hinzu kommen zwei weitere Herausforderungen, die mit dem Schuldendienst verbunden sind: 

  • Während früher vor allem reiche westliche Länder sowie IWF und Weltbank Geld liehen, spielen heute weitere, «neue» Gläubiger eine immer wichtigere Rolle: Länder wie China, Indien oder die Türkei etwa, aber auch regionale Entwicklungsbanken in Lateinamerika, Afrika und Asien sowie private Akteure wie weltweit tätige Banken und Rohstoffhändler. Nimmt die Zahl der Gläubiger zu, während es gleichzeitig an transparenten Informationen über Kreditvergabe und -aufnahme mangelt, können die Folgen katastrophal sein: In Mosambik waren dem IWF und der eigenen nationalen Notenbank zufolge nicht gemeldete Kreditgeschäfte mit der Credit Suisse hauptverantwortlich für den Staatsbankrott. 
  • Angesichts der gegenwärtigen Wirtschaftsaussichten und Inflationssorgen haben Zentralbanken von Ländern mit hohen Einkommen die Leitzinsen erhöht. Steigende Zinsen auf den globalen Märkten lassen die Finanzierungskosten ansteigen – und machen es stark verschuldeten Entwicklungsländern noch schwerer, ihre Staatsschulden zu bedienen. Hochverschuldete Länder geraten besonders unter Druck. Laut der Weltbank haben sich seit der Corona-Krise die Staatsschuldenratings von 51 Ländern verschlechtert – darunter 41 Entwicklungsländer.
 

Wege aus der Schuldenkrise 

Der Korruptionsvorwurf ist schnell zur Hand. Es ist sicherlich wichtig, dagegen vorzugehen und dafür zu sorgen, dass Aufsichtsorgane wie Parlamente, Strafverfolgungsbehörden, Rechnungsprüfer etc. ihre Arbeit machen. Ausgaben müssen nachvollziehbar getätigt werden. Im Besonderen gilt dies bei grossen Infrastrukturprojekten oder Prestigebauten, die auf Fremdfinanzierung angewiesen sind und lange Amortisationszahlungen nach sich ziehen. Genauso wichtig, wenn nicht sogar entscheidender, ist allerdings, dass die Gläubiger ihre Kredite mit höchster Sorgfalt und Verantwortung vergeben, und weder schwache Gesetze und Regulierungen noch die Not verschuldeter Länder ausnützen. Immer wieder kommen Fälle ans Licht, bei denen Schweizer Banken oder Rohstoffkonzerne Skandale produzierten und Korruption erst ermöglichten; so etwa die Credit Suisse in Mosambik, die UBS in Papua Neuguinea oder das weltweit grösste im Rohstoffhandel und Bergwerksbetrieb tätige Unternehmen Glencore in der Demokratischen Republik Kongo

Immer weniger können sich ärmere Länder auf die öffentliche Entwicklungshilfe (ODA) verlassen. Vermehrt gilt es deshalb für verschuldete Länder, neue Finanzierungsquellen zu erschliessen. Zum Beispiel sollten Verträge über die Aufteilung von Erträgen aus dem Rohstoffabbau stärker im Interesse der Gesellschaft der Länder sowie im Sinne der lokalen Wertschöpfung und der nachhaltigen Entwicklung ausgehandelt werden. Falls erforderlich und erwünscht, können (im Rahmen der Internationalen Zusammenarbeit) unabhängige Experten und Expertinnen Länder mit Rohstoffen bei komplexen Vertragsverhandlungen unterstützen

Die Länder sollten auch die inländische Ressourcenmobilisierung stärken. Zum Beispiel indem die Steuern für wohlhabende Schichten erhöht und Steuerflucht ins Ausland bekämpft werden. Doch, ähnlich wie bei der Kreditvergabe, sind auch bei Steuerflucht von Privatpersonen und Steueroptimierung durch Konzerne zwei Parteien involviert. Entsprechend wichtig ist dabei die Rolle einschlägiger Tiefsteuergebiete, zu denen auch die Schweiz gehört. Die Schweiz sollte daher bei der Bekämpfung unlauterer Finanzflüsse transparenter werden. International muss dafür gesorgt werden, dass die betroffenen Länder mehr Steuereinnahmen generieren, z.B. von multinationalen Unternehmen, die ihre dort erwirtschafteten Gewinne nach wie vor viel zu leicht in steuergünstige Länder transferieren können. 

IWF-Sonderziehungsrechte und private Kreditgeber 

Während der Covid-Krise sah die internationale Gemeinschaft, allen voran die G20 sowie IWF und Weltbank, Handlungsbedarf und unterstützte einen temporären Aufschub des Schuldendienstes. Dadurch entspannte sich die Lage der verschuldeten Staaten wenigstens kurzfristig etwas. Allerdings wird das Problem dadurch einfach ein paar Jahre in die Zukunft verschoben. In der Zwischenzeit treten die sieben grössten Wirtschaftsnationen G7 bei der Lösungssuche weiterhin auf die Bremse. Noch im Mai 2022 schafften es deren Finanzminister nicht, ausreichend ambitionierte Massnahmen in Richtung grundlegender und nachhaltiger Auswege aus der Schuldenfalle zu beschliessen. Sie wiederholten lediglich ihren Appell an den Privatsektor, sich an den Schuldenerleichterungen zu beteiligen. Doch aufgrund der Freiwilligkeit werden private Gläubiger wie Banken oder Rohstoffhändler weiterhin kein Interesse an einer gemeinsamen Lösung zeigen. 

Immerhin, eine zweite Schiene weckt etwas Hoffnung: Im August 2021 gab der IWF Sonderziehungsrechte (SZR) von 650 Milliarden US-Dollar an seine Mitgliedsländer aus – mit dem Ziel, die Haushaltsspielräume der Regierungen zu vergrössern. Dadurch sollten die Länder die wirtschaftlichen und sozialen Covid-Auswirkungen besser bewältigen und sich Impfstoffe und medizinische Ausrüstung besorgen können. Weil die Quotenanteile der SZR dem relativen Gewicht der Länder in der Weltwirtschaft entsprechen, erhalten Niedrigeinkommensländer allerdings lediglich 21 Milliarden US-Dollar oder 3,2 Prozent. Daher wäre es sinnvoll, wenn grosse IWF-Mitglieder ihre Ziehungsrechte an ärmere Staaten abtreten. In der Abschlusserklärung von Bali schlagen die G20-Länder vor, 100 Milliarden US-Dollar an freiwilligen Beiträgen für notleidende Staaten zur Verfügung zu stellen. Auch die Schweiz sollte sich an dieser Diskussion beteiligen und entsprechende Schritte einleiten. 

Patrik Berlinger | © Maurice K. Gruenig
Verantwortlicher Politische Kommunikation