«1200 Franken im Jahr. Klingt erstmal nicht weiter bemerkenswert. Aber wenn man bedenkt, dass er seit vielen Jahren auf Ergänzungsleistung angewiesen war, nachdem er sich Anfang der 2000er Jahre durch berufliche Fehlentscheidungen in den Konkurs manövriert hatte, wird es das eben doch.
Mein Vater war 1933 in Deutschland geboren, ein Kind mitten im Krieg, und er war fest davon überzeugt, dass wir, die das Glück haben, in der sicheren Schweiz zu leben, uns unseres Privilegs bewusst sein sollten. Er war – ganz wie ich – ein gänzlich UNbescheidener Mensch ;) Aber gleichzeitig war er sich sehr klar darüber, dass Glück und Wohlstand keine Selbstverständlichkeit sind.
Seine Dankbarkeit zeigte sich in den kleinen Dingen: Wenn er mit dem Zug von Solothurn zu mir nach Zürich fuhr und der Zug pünktlich ankam, stand er auf und bedankte sich beim Zugpersonal. Er sagte, dass man als Deutscher weiss, dass es auch anders geht; er war ein Mann mit viel Humor.
Die 1200 Franken pro Jahr waren für ihn eine grosse Summe. Seine Lebensgefährtin erzählte mir, dass sie das manchmal infrage stellte. Aber er sagte immer, dass diese 100 Franken sein Leben nicht gross verändern würden – das eines anderen Menschen in einer weniger privilegierten Ecke der Welt aber schon.
Kafi Freitag mit ihrem grossherzigen Vater
Diese Haltung hat mich sehr geprägt. Mein Vater hat das Leben mit Leichtigkeit und Freude gelebt, ohne je die Ungerechtigkeiten in der Welt aus den Augen zu verlieren.
Jeden Tag schickte er ein kleines Dankesgebet gen Himmel, gleichzeitig hat er Kirchen aber gemieden. Er wusste, dass das Leben nicht fair verteilt ist – aber er hat sich nicht damit abgefunden. Stattdessen hat er jeden Tag im Kleinen etwas dagegen unternommen.
Sein Motto war: Wenn jede:r von uns nur das tut, was im eigenen Rahmen möglich ist, dann ist schon sehr viel gewonnen. Und er war überzeugt davon, dass diese Selbstwirksamkeit auch Balsam für die eigene Seele ist. Ich bin unendlich dankbar, dass er mir diese Werte mitgegeben hat. Es ist mir eine Ehre, seine Tradition der Menschlichkeit weiterzuführen und im Rahmen meiner eigenen Möglichkeiten zu leben. Auch kleine Steine ziehen grosse Kreise. Jeder Beitrag – sei er auch noch so klein – kann grosse Dinge bewirken! Es liegt so viel Schönheit darin, anderen faire Chancen zu ermöglichen.
Mein Vater hat trotz der Widrigkeiten in seinem Leben seinen Teil beigetragen. Was könnten wir alles erreichen, wenn wir uns zusammentun? Gemeinsam können wir, Schritt für Schritt, mehr Fairness in die Welt bringen. Sind Sie dabei?»
Kafi Freitag ist Autorin, Podcasterin, Coach mit eigener Praxis und Meinungsmacherin. Ihr Ziel: Menschen zu fairen Chancen verhelfen. Sie ist Expertin im Bereich Neurodiversität (ADHS, Autismus) und berät zusammen mit Nationalrat Islam Alijaj die Wirtschaft in Fragen der Inklusion von Menschen mit Behinderungen aller Art. Ob als Geschäftspartnerin, in ihren Coachings oder als Botschafterin von Helvetas – Kafi macht sich mit Herzblut und Humor für das Gute stark. Mehr unter: kafifreitag.com.