«Anstatt von meinem Wecker geweckt zu werden, reisst mich nun meist das laute, penetrante Heulen der Sirenen aus dem Schlaf, so auch heute. Und auch heute wird es eine Sirene von vielen sein. Ich atme tief durch und greife nach dem Smartphone. Die Chats auf Telegram informieren mich über die Ursache des Alarms: Ist es ein Kampfflugzeug, dauert der Alarm nicht allzu lange. Eine iranische Drohne oder ein Raketenangriff bedeuten Gefahr. Bei einer Rakete heult die Sirene bis zu einer Stunde lang.
Die Benachrichtigungen geben mir das Gefühl, die Kontrolle zu haben. Durch sie kann ich die voraussichtliche Ankunftszeit oder die Flugbahn von Raketen in verschiedenen Regionen der Ukraine verfolgen. Auch helfen sie mir, meine eigene Zeit einzuteilen, denn während eines Luftalarms fallen die öffentlichen Verkehrsmittel aus. Bis der Alarm vorbei ist, muss ich zuhause arbeiten, unten im Schutzraum.
Die Sicherheit hat Vorrang über morgendliche Rituale. Anstatt einen Morgenkaffee zu trinken, schultere ich meinen Rucksack – Wasser, Snacks, ein Erste-Hilfe-Set – und gehe die Treppe runter, zu Fuss, denn im Lift könnte ich durch einen allfälligen Kurzschluss festsitzen. Der Schutzraum bietet Sitzgelegenheiten, Beleuchtung und Ladestationen. Ich packe die wichtigsten Aufgaben des Tages zuerst an. So komme ich voran, trotz Unterbrechungen. Tag für Tag. Es wird zur Routine. Eine Routine, die keine Gefühle aufkommen lässt.
Maryna Naumenko, Kommunikationsfachfrau Helvetas Ukraine.
Die Angst ist seit Kriegsbeginn allmählich weniger geworden. Vielleicht ist das ein Bewältigungsmechanismus, der mir hilft, durchzuhalten. Würde es in der Nähe eine Explosion geben, würde ich wohl wieder empfindlicher sein für eine Weile. Wie damals, als eine Rakete frühmorgens in der Nähe unseres Wohnhauses einschlug. Mein Vater rief an, weckte mich nach einer Nacht mit vielen Luftalarmen, weil er eine Rakete in die Richtung unseres Quartiers hatte fliegen sehen. Für den Schutzraum war es bereits zu spät. Innert Sekunden sah ich einen Teil der Rakete an meinem Fenster vorbeifliegen, ein grosses, rotes Stück sauste hinunter, gefährlich nahe, mit ohrenbetäubendem Lärm. Mein Herz schlug bis zum Hals, doch ich war unfähig zu reagieren. In manchen Zeiten ist der Schlafmangel einfach zu gross, die Erschöpfung zu stark. Zum Glück landete das Raketenteil auf einer Baustelle, fünf Gehminuten von meinem Haus entfernt.
Mir wird bewusst, dass der Glaube, die Situation kontrollieren oder die richtigen Entscheidungen treffen zu können, nur eine Illusion ist. Und doch: Ich versuche, das Leben zu geniessen, glücklich zu sein. Und es gibt sie, die Dinge, die mir Kraft geben: Mit meiner Familie zu sein, in meiner Heimatstadt zu leben. Es tröstet mich, dass die Dinge, die für mich am meisten zählen, unverändert geblieben sind, wie etwa unsere Familientraditionen: Wir nutzen jede Gelegenheit, am Wochenende zusammenzukommen. Oder gemeinsam verbrachte Feiertage. Das sind liebgewonnene Traditionen. Es geht darum, bleibende Erinnerungen zu schaffen und die Bindungen durch gemeinsame Freude und Zweisamkeit zu stärken.
Obwohl, nein, es gibt eine Änderung: Wir haben diese Momente noch mehr schätzen gelernt. Ich spüre, wie es vielen anderen Ukrainerinnen und Ukrainern in meiner Umgebung genauso geht: Sie schätzen die Gegenwart mehr als früher und sind dankbarer. Selbst für kleine Dinge.
Maryna Naumenko, Helvetas Kommunikationsfachfrau in Kiew.
Um Stress abzubauen, treibe ich Sport, meditiere und zeichne. Die Arbeit ist mir sehr wichtig geworden. Ironischerweise kann ich trotz unseres Ziels, den wirtschaftlichen Aufschwung inmitten des Krieges zu stärken, den Krieg etwas vergessen. An sozialen Projekten mitzuwirken, Menschen zu unterstützen und Unternehmen wieder aufzubauen, bereitet mir immense Freude. Wenn Menschen mir erzählen, wie ihr Leben durch eines unserer Projekte etwas besser wurde, tut das gut und ist inspirierend.
Freude in kleinen Dingen zu finden, wird immer wichtiger. Im Frühling hat Russland unsere Energieinfrastruktur attackiert und zerstört. Wir spüren die Konsequenzen bereits. Es gibt Tage, an denen der Strom bis zu sieben Stunden am Stück ausfällt. Du schläfst ein und wenn du aufwachst, fehlt er immer noch. Wenn ich abends heim gehe, sehe ich sofort, ob es wieder einen Stromausfall gibt. Die Gebäude rundherum sind dann dunkel und das Handysignal fast inexistent. Jetzt, im Sommer, können wir während dieser Zeit im Wald spazieren gehen. Aber im Winter wird es in Kiew um 16 Uhr dunkel.
Vor dem Zubettgehen hoffe ich jeweils, nicht von einem Luftalarm aufgeschreckt zu werden. Die Hoffnung bleibt, dass ich eines Tages aufwachen und meinen Morgenkaffee trinken kann – in Ruhe und in Frieden.»